Prof.Dr.med. Remo Largo: DOSSIER JUGEND «DAS NORMKIND GIBT ES NICHT» zurück
Eine optimale Förderung von Jugendlichen orientiere sich an deren
Individualität, sagt Pädiatrieprofessor Remo Largo. Dies zeigen Langzeitstudien
über die Entwicklung von Kindern bis ins Erwachsenenalter.
Mit Remo Largo sprach Roger Nickl
Herr Largo, Sie werden dieses Jahr sechzig.
Welche Erinnerungen haben Sie an
Ihre eigene Jugendzeit in den 50er- und
60er-Jahren?
REMO LARGO: Ich habe kürzlich meine Mutter gefragt. Sie meinte,
meine Pubertät sei kaum merklich verlaufen – ich sei sehr pflegeleicht gewesen.
Ich erwähne das, weil diese Lebensphase sehr unterschiedlich sein kann. In
Erinnerung bleiben in der Regel die Jugendlichen, die die Erwachsenen nerven.
Kinder, die die Pubertät einigermassen problemlos durchlaufen, nimmt man im
Gegensatz dazu kaum wahr. Aus meiner eigenen Erinnerung würde ich sagen, meine
Jugendzeit war durch die Literatur geprägt.
Die Existenzialisten haben mich damals sehr
beschäftigt. Ich verschlang alles von Camus bis Sartre und sah mir die
entsprechenden Filme und Theaterstücke an. Es ist ja ein Merkmal der Pubertät,
dass wir uns in dieser Altersperiode für gesellschaftliche, ethische und
philosophische Fragen zu interessieren beginnen.
Im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg
wurde dies wieder deutlich.
LARGO: Das stimmt, die Öffentlichkeit war ja zuerst überrascht, dass sich die
Jugendlichen nach einer eher lethargischen Phase plötzlich wieder mobilisieren
liessen. Vergleicht man die Art und Weise, wie hier Unbehagen formuliert wurde,
mit der Vergangenheit, so fallen Parallelen auf. Man denke etwa an den
Vietnamkrieg Ende der Sechzigerjahre. In der Adoleszenz geht es stark um eine
Polarisierung zwischen den jungen Menschen und Autoritäten wie etwa der amerikanischen
Regierung. Dieser Konflikt liefert die Energie für Auseinandersetzungen, die im
weitesten Sinne immer um Themen der Aufklärung kreisen.
Sie sind auch Vater dreier Töchter.
Wie haben Sie die Adoleszenz Ihrer eigenen
Kinder erlebt?
LARGO: Wir sind wie die meisten Eltern in diese Problematik hineingerutscht.
Aufgefallen ist mir bei meinen Töchtern, wie individuell die Pubertätsentwicklung
verlaufen kann. Da sind drei Kinder, sie wachsen in derselben Familie auf,
verhalten sich aber sehr unterschiedlich.
Vergleicht man etwa den Zeitpunkt, an dem meine Töchter eine feste
Beziehung eingegangen sind, so war dies bei der einen bereits mit 15 bis 16,
bei einer anderen erst zwischen 19 und 20 Jahren. Aus solchen Erfahrungen wird ersichtlich,
wie verschieden die Biologie auch innerhalb einer Familie wirken kann.
Wieso diese Unterschiede?
LARGO: Da gibt es eine Vielzahl von Gründen.Wichtig
ist das unterschiedliche Tempo der individuellen Reifungsprozesse. Bei
gleichaltrigen Jugendlichen können Entwicklungsunterschiede von bis zu sechs
Jahren entstehen. Ein weiterer Grund ist die Persönlichkeit. Für den einen
Adoleszenten sind die partnerschaftlichen Beziehungen überaus wichtig,
für einen anderen ist es die eigene Entwicklung
und die Leistung, die er erbringen will.
Punkto Beziehungen ist die Rolle der Eltern
zentral. Welches sind die familiären
Bedingungen für einen erfolgreichen Sprung
von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter?
LARGO: Die zentrale Frage scheint mir zu sein:
Kann der Jugendliche die
emotionale Sicherheit, die er während Jahren von den Eltern erfahren hat, jetzt
unter Gleichaltrigen finden? Wovon hängt es ab, ob diese Neuorientierung
gelingt? Hier spielen zahlreiche
Faktoren – auch die Qualität der Beziehung zu den Eltern – eine wichtige Rolle.
Kinder, die die elterliche Beziehung als stabil und zuverlässig erlebt haben,
erwarten dieselbe Qualität auch von ihrem Prinzen oder ihrer Prinzessin. Die
hohen Erwartungen können aber – wie wir alle wissen –den Jugendlichen vor
Enttäuschungen nicht bewahren. War die Beziehung zu den Eltern belastend und
hatten diese auch untereinander Schwierigkeiten, dann ist der Jugendliche unter
Umständen sehr zögerlich, eine Beziehung einzugehen. Es kann aber auch sein,
dass er gerade wegen der negativen Vorbilder sehr hohe Erwartungen an sich
stellt: Er will es besser machen als seine Eltern. Für manche Jugendlichen
bekommt diese Umorientierung einen dramatischen Charakter. Es gibt eine Zeit,
da haben sie den elterlichen Hafen verlassen, neues Land ist aber noch nicht in
Sicht.
Was können Eltern zu einem Gelingen dieser Ablösung
beitragen?
LARGO: Tragisch für die Eltern ist, dass sie dem Sohn oder der Tochter kaum
helfen können. Sie können ihnen die neuen Beziehungen nicht organisieren.
Ihre Hauptaufgabe ist es,
den Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie jederzeit zurückkehren können,
wenn er oder sie nicht mehr weiter wissen. Manche Eltern glauben übrigens, dass
sich Konflikte in dieser Phase vermeiden lassen, wenn sie es denn nur richtig
anstellen. Konflikte sind aber ein integraler Bestandteil der Ablösung. Sie
müssen immer ausgetragen werden. Die Jugendlichen brauchen den Widerstand, um sich abgrenzen zu können. Die Eltern
sollten daher ihre Meinung immer klar sagen und keine Kompromisse machen. Sie dürfen aber nicht mehr erwarten, dass sich
der Jugendliche auch danach richtet.
LARGO: Je mehr die Eltern dem Kind ermöglicht haben, sich selbst zu werden,
desto besser sind die Chancen für eine positive Entwicklung. Wenn das Kind im Verlaufe der Kindheit sich selbst
kennengelernt hat, wenn es weiss, wo seine Stärken und Schwächen liegen, kann
es ganz anders mit der Adoleszenz umgehen.
Stand es aber während der Kindheit ständig Erwartungen gegenüber, die es
nicht erfüllen konnte, wird sein Selbstwertgefühl darunter leiden, was sich
wiederum auf seine Entwicklung in der Adoleszenz auswirken wird.
Sie sprechen in
diesem Zusammenhang auch von einem Fit-Konzept – um
was geht es?
LARGO: Ein Beispiel: Wir erstellen im Zusammenhang mit Schulproblemen Entwicklungsprofile
von einzelnen Kindern. Diese erfassen verschiedene Bereiche – Sprache,
logisches Denken, Motorik und so weiter. Anhand solcher Profile wird für Eltern
und Lehrer besser verständlich, wo ein Kind im Vergleich mit Gleichaltrigen in
seiner Entwicklung steht. Ein Fit liegt dann vor, wenn die Erwartungen und
Anforderungen der sozialen Umgebung auf das Entwicklungsprofil des Kindes
abgestimmt sind.
Kürzlich war bei uns ein
Junge, der mit drei Jahren bereits lesen konnte. In anderen Bereichen war er ebenfalls
weit entwickelt. Teilweise lag er aber selbst hinter der durchschnittlichen
Entwicklung zurück. Diese «innere Vielfalt» sollten Eltern verstehen und sich
darauf einstellen. Das Kind soll nicht nur in seinen Stärken gefördert werden,
sondern auch darin unterstützt werden, seine Schwächen als Teil seiner
Individualität zu akzeptieren und damit zu leben. Besteht aber über Jahre
hinweg ein Misfit, das heisst, die Erwartungen und
Anforderungen stimmen nicht mit den Fähigkeiten des Kindes überein, kann dies
vielfältige nachteilige Auswirkungen haben. Ziehen sich negative Lern- und
Lebenserfahrungen über die ganze Schulzeit hin, können Wohlbefinden,
Selbstwertgefühl und soziale Integration nachhaltig beeinträchtigt werden.
Es geht Ihrer
Meinung nach darum, Kompetenzen und Anforderungen in Einklang zu bringen?
LARGO: Ja, ich denke, darum geht es. Das aktuelle Thema ist in diesem
Zusammenhang natürlich die Schule. Die Variabilität in der Entwicklung ist so
gross, dass beispielsweise eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium vielen Kindern
nicht gerecht wird. Wie bereits erwähnt, müssen wir davon ausgehen, dass mit 13
Jahren der Entwicklungsstand zwischen 10 und 16 Jahren variiert. Kommt hinzu,
dass Mädchen zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt eineinhalb Jahre reifer sind
als Jungen. Schwergewichtig werden an
dieser Prüfung mathematische und sprachliche Fähigkeiten geprüft. Was ist mit all den Kindern, deren Stärken in
anderen, beispielsweise naturwissenschaftlichen Fächern liegen?
Die Frage ist:
Können wir uns eine Individualisierung des Schulsystems, wie Sie sie andeuten,
in Zeiten eines erhöhten Spardrucks leisten?
LARGO: Die Frage ist vielmehr: Können wir es uns im Wettbewerb mit anderen
Ländern leisten, die Schule nicht an die gewandelten Bedürfnisse von Gesellschaft
und Wirtschaft anzupassen? Unsere Schule
hat sich in der Vergangenheit bewährt. Das ist aber keine Garantie, dass sie es
auch in der Zukunft tun wird. Was wir brauchen ist eine Schule, die auf der
Höhe der Zeit ist – eine Schule, an der man das Lernen lernt, die
Eigenverantwortung, selbständiges Arbeiten und soziale Kompetenz fördert. Die Schweiz
war in Bezug auf Bildung demokratisch und sozial gerecht. Das hat sich in der
Vergangenheit sehr positiv auf das Land ausgewirkt. Die zahlreichen Nobelpreisträger und Erfinder
von Patenten zeugen davon. An einer Volksschule für alle Kinder sollten wir
auch in Zukunft festhalten.
Ihrer Meinung nach ist die Schweiz dabei, sich etwas
zu vergeben?
LARGO: Punkto Schule haben wir den Sündenfall – die massive Erhöhung der
Klassengrössen etwa – noch nicht begangen. Die Integration, ein ganz wichtiges
Thema, funktioniert nur mit kleinen Klassen. Die Schule wird oft als
Institution gesehen, die allein Wissen und Fertigkeiten vermittelt. Sie hat
aber auch eine eminent wichtige Aufgabe in der Sozialisierung.
Was sind denn die gesellschaftlichen Voraussetzungen
für einen positiven Verlauf der Adoleszenz?
LARGO: Das Ziel wäre für mich Liberalismus im wörtlichen Sinn. Die
Jugendlichen müssen ihren Weg selber machen, die Gesellschaft ist aber für die
optimalen Rahmenbedingungen verantwortlich. Ein wichtiger Punkt sind die
mangelnden Freiräume für Jugendliche. Orte,
die sie selbst verwalten, für die sie verantwortlich sind. Die Jugendlichen
sollen erfahren, dass sie die Gesellschaft ernst nimmt, dass sie bereit ist,
ihnen Verantwortung zu übertragen. Das Gefühl für Mitverantwortung kann nur
durch Erfahrung wachsen. Das Fehlen von
Freiräumen wird heute leider durch die Unterhaltungsindustrie missbraucht. Viele Jugendliche gehen nicht an Events und Partys,
weil sie das so ungeheuer toll finden, sondern weil sie einfach andere
Jugendliche treffen wollen.
Die Jugendlichen werden zu wenig ernst genommen?
LARGO: Ich habe wiederholt erlebt, dass an Schulen die Politik ausgeblendet wird.
Darauf angesprochen, sagte mir der Rektor eines Gymnasiums, es gäbe viele
Eltern, die wollten einfach keine politischen Diskussionen im Klassenzimmer.
Erstaunt es da, wenn sich die jungen Erwachsenen um die Politik foutieren? Es
herrscht ein allgemeines Wehklagen über die Interesselosigkeit der
Jugendlichen. Haben wir sie je gefragt, was für eine Schule sie wollen? Und ob sie in der Schule über Politik
diskutieren wollen? Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was die
Gesellschaft will, oder anders gefragt, welche Gesellschaft wir wollen.
Sie haben festgestellt, dass sich Politik und Gesellschaft
zu wenig um die Jugendlichen kümmern. Weshalb?
LARGO: Momentan ist es vielleicht besonders schwierig, weil auch wir
Erwachsenen etwas orientierungslos sind. Welches sind denn die positiven Werte,
die wir in dieser Gesellschaft vertreten?
Haben wir noch Visionen für eine bessere Gesellschaft? In einer solchen
Situation fällt es uns schwer, den Jugendlichen gegenüber als Vorbilder
aufzutreten und ihnen als Sparringpartner für Auseinandersetzungen zu dienen.
Die Langzeitstudien des Kinderspitals, an denen Sie
massgeblich beteiligt sind, untersuchen seit 1954 sehr detailliert das Wachstum
und die Entwicklung des Menschen vom Baby bis zur Schwelle des Erwachsenenalters.
Gibt es eine herausragende Erkenntnis dieser Studien?
LARGO: Eine Frage, die uns dreissig Jahre lang beschäftigt hat, ist die nach
dem Einfluss und dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt.
Die Antworten darauf waren
– wie zu erwarten– komplex. Es gibt Bereiche, in denen die Anlage in einem
hohen Masse die Entwicklung bestimmt, beispielsweise bei der Körpergrösse oder
dem Schlafbedarf. Es gibt andere Bereiche, in denen die Entwicklung
entscheidend von den Erfahrungen abhängt, die das Kind macht – beispielsweise bei
der Sprache oder dem Sozialverhalten. Allgemein
lässt sich sagen: Die Anlage gibt das Optimum einer möglichen Entwicklung vor.
Das heisst, man kann ein Kind fördern, bis sein Potenzial
ausgeschöpft ist – darüber hinaus ist keine weitere Entwicklung mehr möglich.
Nehmen wir das Beispiel eines legasthenischen Kindes: Aus einer
entwicklungsbiologischen Perspektive wäre es sinnvoll, sich auf das Kind
einzustellen und mit ihm zusammen eine Verbesserung der Lesekompetenz im
Bereich des Möglichen zu erzielen. Es macht dagegen keinen Sinn, das Kind zu
etwas zu zwingen, was es gar nicht im Stande ist zu leisten. Wir sollten die
Anforderungen an das Kind so wählen, dass es Erfolgserlebnisse hat und so sein
Selbstwertgefühl nicht leidet.
Ihre Bücher «Babyjahre» und «Kinderjahre» sind
Bestseller geworden. Wie sind Sie dazu gekommen, neben Ihren wissenschaftlichen
Publikationen auch praxisorientierte Literatur für Eltern zu schreiben?
LARGO: Ich wollte auf die Vielfalt und Individualität der Entwicklungsprozesse
hinweisen und so die Eltern in einer gewissen Weise auch von Normzwängen
entlasten, denn das Normkind gibt es nicht.
Remo Largo war Professor für Pädiatrie an der Universität und Leiter der Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital Zürich. Im Rahmen mehrerer Langzeitstudien hat er mit seinem Team einen weltweit einmaligen Datensatz über das Wachstum und die Entwicklung von mehr als 700 Kindern von der Geburt bis in ins Erwachsenenalter erarbeitet. Largos populärwissenschaftliche Bücher «Babyjahre» (1995) und «Kinderjahre» (1999) wurden zu Bestsellern.