Treibholz zurück
An einem späten Winternachmittag kam ich zum Haus einer Freundin, um sie gerade
wegen dieses Buches zu treffen. Ihre ältere Tochter Shannon, die damals
sechzehn war, öffnete mir die Tür und teilte mir mit, daß ihre Mutter eine
Stunde später als erwartet zurückkommen würde. Ich könne hier warten, sagte sie
kurz angebunden. Es war nicht zu übersehen, daß sie nahe am Weinen war. Ihre
Stimme war gepreßt und zittrig, ihre Augen waren wäßrig und ihre Schultern
hingen herunter. Als ich sie fragte, wie ihr Tag gewesen war, platzte sie
heraus, daß sie für eine Rolle in einem Schultheaterstück erfolglos
vorgesprochen habe. Um alles noch schlimmer zu machen, waren vier von den fünf
Schülern, die vorgesprochen hatten, ausgewählt worden — was bedeutete, daß sie die einzige gewesen
war, die abgelehnt worden war.
Shannon wurde mit einer spastischen Lähmung geboren. Sie ist kein schwerer
Fall, relativ gesehen, weil ihre Sprache normal ist, ihre Hand- und Armkoordination
fast normal sind und sie ohne Hilfe gehen kann, wenn auch auffallend
schleppend. Die weniger sichtbaren Auswirkungen der spastischen Lähmung sind
eine deutliche Lernbehinderung und eine gefühlsmäßige Identifikation damit,
anders und behindert zu sein.
Während Shannon mir von ihrer Ablehnung für das Theaterstück erzählte, gingen
wir ins Wohnzimmer und ich fing an, Holz- - scheite in den Kamin zulegen. Es war jetzt
fast dunkel und ich dachte mir, die Wärme und das Licht des Feuers würden ihre
Stimmung heben. Ich hatte mich geirrt. Shannons Bemerkungen waren mit
Aussprüchen gepfeffert wie „ich bin wertlos“, „ich bin zu nichts gut“, „aus mir
wird nie etwas werden“, „es wäre besser, ich wäre tot“.
Ich kannte Shannon seit etlichen Jahren und hatte seitdem häufig erlebt, daß
sie in Tränen aufgelöst von der Schule kam, weil man sie „Krüppel“,
„zurückgeblieben“ oder „Bekloppte“ genannt hatte. Jeder Versuch, sie direkt zu
trösten, indem man ihre anderen Fähigkeiten hervorhob, blieb erfolglos. Sie
wollte nichts davon hören, was sie alles könne, wenn sie gerade so darunter
litt, daß sie hatte hören müssen, was sie alles nicht könne. Dieses Mal
versuchte ich es anders. Ich nahm ihre Hilfe in Anspruch. Sie sollte sich
einfach eine Geschichte anhören, vorgeblich für unser Buch, die ihr vielleicht
etwas sagen würde, vielleicht aber auch nicht. Ich hatte meinen
Kassettenrecorder für das Treffen mit ihrer Mutter mitgebracht und weil sie
Kassetten mochte, bot ich ihr die fertige Kassette als Geschenk für das Zuhören
an. Die Holzscheite und der Kamin inspirierten mich zu der folgenden
Geschichte, die wörtlich wiedergegeben ist. Während das Feuer im Hintergrund
prasselte, lehnte sich Shannon in ihren Sessel zurück und hörte zu.
Während
du da sitzt, kannst du dir vielleicht einer Sache außerhalb deiner selbst
bewußt werden, vielleicht etwas, worauf du dich bequem konzentrieren kannst ... vielleicht auf die Vase da drüben. Ich
weiß nicht, was geschehen würde, wenn du deine Augen schließen und deine
Vorstellungskraft gebrauchen würdest, während ich zu dir spreche (Pause). Das
ist gut, setz‘ dich nur zurecht, bis du eine Position findest, die sich gut
anfühlt.
Stell‘ dir vielleicht einen Kamin vor... oder achte auf das Geräusch des
prasselnden Feuers... oder nimm‘ den Geruch des Rauchs wahr... oder beachte das
Feuerholz da drüben, das nur einem einzigen Zweck dienen wird — wichtig für eine Zeitlang — und dann vergessen.
Prasselnde Geräusche haben ihre eigene Melodie — sanft, und nur der Kamin kennt sie.
Und während du die Bewegungen der tanzenden Flammen beobachtest, können sie dir
vielleicht eine andere angenehme Erinnerung zurückbringen... (lange Pause).
Vor
langer Zeit gab es eine Geschichte über Holz, Bauholz und Holzscheite. Da gab
es dieses Holzstück, einem Scheit ähnlich, das sich scheußlich fühlte. Die
einen machten es lächerlich, andere lachten es aus, weil es einfach nicht dazu
paßte. Es sah einfach anders aus.
Viele, viele Jahre lang war
dieses Holzstück immer wieder traurig; verwirrt darüber, warum es da war, so
anders als die anderen Holzstücke. Warum war es verdreht, ausgelaugt und krumm,
wenn die anderen Stücke scheinbar so stark, fest und ausgesprochen nützlich
waren? Eines Tages wurde dieses gewisse Holzstück sehr aufgeregt, als es sich
in einem Holzstoß neben einem Kamin wiederfand, um verbrannt und zu nichts als
zu Asche zu werden, weggefegt und vergessen. Irgendwie rettete es sich noch
davor, ein verbranntes Holzscheit in einem Kamin zu werden. Stattdessen fand es
sich irgendwie auf einem Lastwagen wieder, auf dem Weg zu einer Fabrik, wo es
zu einem Teil eines Möbelstücks werden sollte. Es war schwer, sich auf einem
Lastwagen zu verstecken und alle konnten es sehen. Obwohl einige der Holzstücke
da oben sogar freundlich waren, hatte es den Anschein, als ob die meisten
eifersüchtig oder gemein wären und sich über es lustig machen wollten, weil sie
dachten, daß es so anders sei als sie. Plötzlich fühlte dieses gewisse
Holzstück all den Schmerz aus all den Jahren, das Lachen und den Spott, die Witze
über seine Form, über sein Holzstücksein, über es selbst. Die Erniedrigung
wurde sogar noch größer, als es von dem Lastwagen herunterfiel und über die
Straße kollerte, bis es da drüben landete, ganz allein. Es erfüllte überhaupt
keinen Zweck mehr, wenn es nicht einmal die Rolle einnehmen konnte, zu Möbeln
verarbeitet zu werden.
Die
Zeit verging und eines Tages wurde es von einem Müllwagen aufgehoben, um
weggeworfen zu werden. Niemand schien für es Verwendung zu haben, nicht einmal
ein Kamin. Es wurde auf einen Karren gekippt, der Müll und nutzlose Gegenstände
geladen hatte, um sie loszuwerden. Man konnte den alten Karren über die Straße
klappern hören, mit dem Holzstück und der Masse anderer Dinge, die in den
tiefsten Teil des Wassers geworfen werden sollten, um dort hinunterzusinken und
weiter hinunter und hinunter. (Lange Pause)
Nun gut, dieses gewisse Holzstück konnte einfach nicht begreifen, daß dies
sein Lebenszweck sein sollte! Es dachte: „Wenn dies das Ende ist, möchte ich
lieber selbst die Kontrolle haben und selbst von dem Karren hinunterfallen ... Wann und wie ich es will ... und ins Wasser fallen und auf meine Weise
untergehen (Lange Pause). Das tat es und wie es so unterging, wie es
wollte, war es überrascht ... und
verwirrt ... zu
entdecken, daß es auf der Oberfläche trieb ... sich auf seine Weise treiben lassen
konnte. Und als es sich umsah, erblickte es viele Dinge. Es sah das Geräusch
des Windes durch die Segel eines Segelbootes streichen, es sah das Geräusch
eines Pelikans auf der Suche nach Futter, es sah andere angenehme Geräusche,
die es sich innerlich gut fühlen ließen. Nach einer Weile entdeckte es, daß es
mit dem Geräusch der Wellen dahin trieb, die es schließlich ans Ufer trugen.
Nun gelangte es nicht wieder irgendwo hin und dachte, daß es genau so gut dort
bleiben und trocknen und verschwinden könnte. Was für ein trauriger Lebenszweck
das wäre! Bald jedoch schlief es in der warmen Sonne ein, während es dem
sanften Rhythmus der Wellen lauschte. Dem Geräusch des blauen Himmels
zuzuhören, entspannte es sogar noch mehr, dem Geräusch des Ozeans zuzuhören,
während man die weißen Wellen- kämme sanft hereinrollen sah.
Plötzlich wurde es von einer sanft liebkosenden Hand aus dem Schlaf geweckt,
die es hielt, lächelte und in Freudeschreie ausbrach: „Du bist fantastisch, du
bist fantastisch.“ Es konnte sich nicht daran erinnern, je so einen liebevollen
Gesichtsausdruck gesehen zu haben ... (Pause) oder solche
lobenden Worte gehört zu haben (lange Pause) ... oder in einer so besonderen, angenehmen
Art berührt worden zu sein. Es war verwirrt, aber es dauerte nicht lange und es
wurde aufgeregt und energisch weggebracht zu mehr Leuten, die entzückt waren,
die Form dieses Holzstücks auf einzigartige und kreative Weise zu betrachten. (Lange
Pause) Und als es sich umsah, bemerkte es ein Schild an der Tür, das
irgendetwas über Treibholz aussagte. Es war ihm der Name Treibholz verliehen
worden und es wurde hoch in Ehren gehalten! Ihm wurde sogar ausdrücklich der
Titel verliehen, das beste Stück Treibholz zu sein, das je gefunden wurde.
Schließlich gewann es einen Wettbewerb und ganz viele Preise, und seine
Schönheit und Wärme und vieles, vieles andere wurde auf der ganzen Welt
anerkannt. Bald fand es sich in einer schönen Umgebung auf einem besonderen
Kaminsims wieder, wo es sich den Tag über aus- ruhte, während es die lächelnden
Gesichter der Vorübergehenden beobachtete und ihre lobenden Worte hörte.
Manchmal beugten sie sich herüber, um es sanft zu berühren — nur um zu spüren, wie es ist, ein so
einzigartiges, wunderschönes Holzstück zu sein. Und als es sich in sein neues
reiches Leben als ein besonderes Stück Treibholz hinein entspannte,
dachte es bei sich:
„Obwohl du dir die ganze Zeit Sorgen gemacht hast, hast du schließlich deine
Bestimmung, deinen Zweck, auf entspannte Weise gefunden!“ Und schließlich
erreichte es wirklich seine Bestimmung und einen Zweck, einen allgemeingültigen
Zweck, anerkannt von allen.