DAS GRÖSSTE SCHNECKENHAUS DER WELT von Leo Lionni zurück zum Geschichtenpltz
Auf einem saftigen Kohlkopf leben ein paar Schnecken.
Leise wandern sie über den ganzen Kohl und tragen ihre Häuser von Blatt
zuBlatt. Sie suchen ein zartes Häppchen zum Knabbern.
» Wenn ich erwachsen bin«, sagt eines Tages eine kleine Schnecke zu ihrem
Vater, » dann möchte ich das grösste Haus der Welt haben. «
»Das ist dumm«, antwortet der Vater, »manche Dinge sind besser, wenn sie klein
sind.«
Zufällig ist der Vater die klügste Schnecke auf dem ganzen Kohlkopf. Und er
erzählt eine Geschichte.
Es war einmal eine kleine Schnecke, die war genauso gross wie du.
Sie sagte zu ihrem Vater:
» Wenn ich erwachsen hin, möchte ich das grösste Haus der Welt haben.« »Manche
Dinge sind besser, wenn sie klein sind«, antwortete der Vater. » Sieh zu, dass
dein Haus klein bleibt und bequem zu tragen ist.«
Aber die kleine Schnecke wollte nicht hören. Sie verkroch sich in den Schatten
eines grossen Kohlblattes. Dort drehte und verdrehte sie sich, sie zuckte,
druckste und zerrte und wand sich, bis sie entdeckte, wie man sein Haus wachsen
lassen kann. Das Haus wuchs und wuchs, und die anderen Schnecken auf den
Kohlblättern staunten und sagten:
»Du hast bestimmt das grösste Haus der Welt.«
Die kleine Schnecke wand sich und drehte und druckste weiter und arbeitete, bis
ihr Haus so gross war wie ein Kürbis. Dann spürte sie, wie sie grosse, spitze
Türmchen und Türme, Bückelchen und Buckel wachsen lassen konnte. Sie brauchte
nur ihren Schwanz in dem Haus eilig hin und her zu bewegen. Durch das emsige
Drucksen und Drücken und Quetschen konnte sie auch noch leuchtende Farben auf
die Buckel machen. Dabei war ihr Herz voller Wünsche, und jeder Wunsch wurde zu
einem herrlichen Muster. Nun asste sie, dass sie das grösste und schönste Haus
der Welt hatte. Sie war stolz und glücklich.
Ein Schwarm von Schmetterlingen flatterte auf sie zu. »Sieh da, eine Kirche!«
rief einer. »Nein«, sagte ein anderer, »ein Zirkus«. Kein Schmetterling merkte,
dass er über ein Schneckenhaus hinweg geflogen war.
Eine Familie Frösche war gerade auf dem Weg zu einem fernen Teich. Alle blieben
stehen und waren verwundert und andächtig. » Wir haben nie etwas Tolleres
gesehen«, erzählten sie später einem Vetter. »So eine kleine Schnecke — und sie
hatte ein Haus wie ein Geburtstagskuchen.«
Aber eines Tages hatten die Schnecken alle Blätter gegessen, und von dem
saftigen Kohl waren nur noch ein paar holzige Stängel übrig. Sie wanderten zu
einem anderen Kohlkopf.
Aber oje, oje, die kleine Schnecke konnte nicht
mitkommen, ihr Haus war viel zu schwer. Sie musste allein zurückbleiben, und es
gab nichts mehr zu essen für sie. Der Hunger wurde immer grösser, und sie wurde
immer weniger, und schliesslich blieb nichts von ihr übrig als das Haus. Und
auch das zerbröckelte nach und nach in kleine Stücke, bis es ganz weg war.
Das ist das Ende der Geschichte.
Fast hätte die kleine Schnecke geweint.
Aber dann fällt ihr das eigene Haus wieder ein. »Ich lasse es so klein, wie es
ist«, denkt sie.
„Und wenn ich gross bin, werde ich hingen, wohin ich will.« Und so geht sie
eines Tages leicht und fröhlich los, um sich die Welt anzusehen.
Dünne Blätter bewegen sich im Wind, andere
hängen schwer auf den Boden herunter. Wo die dunkle Erde aufgebrochen ist, glitzern
Kristalle in der Sonne. Da sind buntgescheckte Pilze und hohe Stängel, von
denen kleine Blumen winken. Sie sieht einen Tannenzapfen liegen in einer
Spitzendecke vom Schatten der Farne und glatte Kieselsteine in Nestern von
Sand, rund wie die Eier der Turteltauben. Föhren hängen an den Felsen, die
borkige Rinde wärmt die Bäume. Süss schmecken die frischen Knospen und sind
kühl vom Morgentau.
Die kleine Schnecke ist sehr glücklich. Frühling, Sommer, Herbst und Winter
kommen und gehen, aber die kleine Schnecke vergisst nie die Geschichte, die der
Vater ihr erzählt hat.
Und wenn jemand fragt: »Wie kommt es nur, dass du so ein kleines Haus hast?“
dann erzählt sie die Geschichte vom grössten Haus der Welt.