Physikprüfung                                                                                                                                                                 zurück

Als viertes Prinzip möchte ich auf den lösungsorientierten Ansatz Ericksonscher Therapie eingehen. Dieser versucht, alte Denkgewohnheiten zu durchbrechen und den Blick auf neue und oft auch überraschende Möglichkeiten zu lenken. Erickson selbst gab Klienten und auszubildenden Kollegen gerne Rätsel auf, bei denen man gewohnte Denkbahnen verlassen musste.


Ein Student des Faches Physik fällt bei der Prüfung durch. Er fühlt sich ungerecht behandelt, ist von der Richtigkeit seiner Antworten überzeugt. Er zieht vor Gericht und bekommt Recht. Da sich nun aber die Situation zwischen ihm und seinem Professor ziemlich zugespitzt hat, wird zur Wiederholungsprüfung ein neutraler Professor einer anderen Universität als Beisitzer bestimmt.


Die entscheidende Prüfungsfrage besteht schließlich darin, dass Student erklären soll, wie man mit Hilfe eines Barometers die Höhe eines Hochhauses bestimmen kann.


Der Prüfling überlegt eine Weile, dann sagt er: “Ich nehme das Barometer und eine lange Schnur. Dann steige ich auf das Dach des Hochhauses, binde das Barometer an die Schnur und lasse es bis zum Boden hinunter. Dann ziehe ich das Barometer wieder hoch und messe die Schnur ab.“
Die Professoren beraten sich. Ohne Zweifel lässt sich so die Höhe es Hochhauses bestimmen, aber die Antwort lässt keinerlei Rückschlüsse auf die physikalischen Kenntnisse des Studenten zu. Da wird die Frage erneut gestellt mit der Aufforderung, eine weitere Lösung zu präsentieren, die auf mehr physikalisches Wissen schließen lässt. Der Student bekommt weitere fünf Minuten, um eine Lösung vorzubereiten.


Es vergehen drei, es vergehen vier Minuten, der Prüfling sitzt nachdenklich da.
Schließlich wird der beisitzende Professor ungeduldig und erkundigt sich, ob mit einer Antwort noch zu rechnen sei. Der Student erwidert, er könne
sich nur nicht entscheiden, welche seiner Lösungen er präsentieren solle.

Dann beginnt er: “Ich warte, bis die Sonne scheint. Dann stelle ich mein Barometer neben das Hochhaus, messe die Schattenlänge des Hochhauses und die des Barometers. Da ich weiß, wie hoch mein Barometer ist, kann ich mithilfe einer einfachen Verhältnisgleichung die Höhe des Hauses bestimmen.“

Die beiden Professoren werten schließlich die Prüfung als bestanden - die Lösung hat ein gewisses physikalisches Wissen gezeigt und war eine korrekte Möglichkeit. Der Prüfling verlässt zufrieden den Raum. Auf dem Gang holt ihn der Beisitzer ein und meint: “Nun bin ich aber doch neugierig - welche anderen Lösungsmöglichkeiten hatten Sie denn noch in Betracht gezogen?“

Der Prüfling schmunzelt: “Ich hätte zum Beispiel wieder auf die Spitze des Gebäudes steigen und das Barometer hinunterfallen lassen können. Mit einer Stoppuhr hätte ich die Zeit bis zum Aufprall stoppen und damit die Höhe des Hauses berechnen können.
Eine andere - zugegeben: sehr einfache - Methode wäre gewesen, das Barometer als eine Art kleinen Meterstab zu verwenden; das heißt im Treppenhaus abzählen, wie oft ich das Barometer übereinander stellen muss, bis ich oben bin, also das Hochhaus in Barometereinheiten messen.
Physikalisch sehr anspruchsvoll könnte man es noch messen, wenn man das Barometer an eine lange Schnur binden und damit ein Pendel schaffen würde. Hätte man dann den Unterschied der Pendelbewegung unten und oben gemessen und die Erdanziehungskraft mit einberechnet, hätte man die Größe des Hauses rein theoretisch auch berechnen können.

Wenn Sie jedoch nicht so auf einer physikalischen Antwort bestanden hätten - ich hätte eine ganz andere Lösung bevorzugt. Ich wäre zum Hausmeister gegangen und hätte zu ihm gesagt: Sehen Sie dieses wunderschöne Barometer? Ich schenke es Ihnen, wenn Sie mir sagen, wie hoch das Haus ist.-‘


Diese Geschichte, die ich hier etwas verändert nacherzählt habe, fand ich in M. Gell-Mann (1996): Wie löse ich ein Problem?

                                                                                                                                                                                                                                                        zurück