Leo Lionni

 

(*5.Mai 1910 in Amsterdam, + 10.10.1999 in Rom)

 

Eine persönliche Betrachtung der Autobiografie des Künstlers

 

von Samuel Kohler

 

Leo Lionni, eine der faszinierenden Figuren in der Kunstgeschichte des 20.Jahrhunderts: Wanderer „zwischen Zeiten und Welten“, so auch der Titel seiner Autobiografie, Grafiker, Maler, Bilderbuchautor, Lehrer, Bildhauer, Autor, Fotograf, Berufsintellektueller pendelnd zwischen Europa und Amerika, zwischen der Realität kommerzieller Grafik und künstlerischer Fiktion, den Genüssen des Lebens zugewandter Sozialist italienischen Musters, Humanist, Sucher und Forscher, „mystischer Agnostiker“ mit jüdischem Hintergrund, aufmerksamer Beobachter und aktiver Teilnehmer an den wichtigsten Kunstströmungen des 20.Jahrhunderts.

 

Amsterdam war zur Zeit von Lionnis Geburt Hauptstadt der weltweiten Diamantenindustrie. Die Vorfahren seines Vaters waren wohlhabende Diamantenschleifer und -händler, ihrer Herkunft nach sephardische Juden, die während der Inquisition aus der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Seine Mutter entstammte einer holländischen, protestantischen Arbeiterfamilie. Ihr Vater war ein schwieriger, zu Alkoholexzessen neigender Choleriker, sie selber Opernsängerin, deren Musikstudium von einem wohlhabenden Mäzen finanziert worden war. Die Hochzeitspläne von Louis Lionni und Betty Grossouw 1909 wurden von beiden Familien vorerst mit wenig Begeisterung aufgenommen .

 

Die ersten 10 Lebensjahre spielten sich geografisch näher der Grossouw-Familie, in einem Mietshaus in Amsterdam ab. Leo war fasziniert von seinem Onkel Piet, einem fantasievollen jungen Architekten, der ihm einen schwarzen Tisch schenkte, weil auf Schwarz alle Farben so schön aussehen und der ihn zeichnen lernte. Grossvater Grossouw glänzte vor allem durch alkoholische Exzesse, Onkel Jan heiratete eine Prostituierte, was nicht nur Leo verwirrte, und Tante Mies war mehr Kumpel denn erwachsene Verwandte. Mutter machte als Solosopran lokale Karriere, Vater wandte sich von der einträglichen Diamantenschleiferei ab und gedachte, Wirtschaftsprüfer zu werden.

 

Zuhause hatte er ein eigenes Zimmer, wo er sich in Aquarien, Terrarien und Käfigen allerlei Kleintiere und Pflanzen hielt und bereits als kleiner Junge Naturbeobachtungen anstellte. Lionni wird im Alter sagen: „Ich male Formen, Farben, Texturen von Steinen, Pflanzen den Bildern nach, die vor mehr als 70 Jahren in meinem Gedächtnis gespeichert wurden“.

 

Das pädagogische Milieu war geprägt von Fröbel- und Montessori-Bewegung. In Leos Elternhaus hingen dank eines Grossonkels väterlicherseits, von dem später die Rede ist, Bilder von Künstlern der beginnenden Moderne wie Henri de Fauconnier, einem frühen Kubisten, Piet Mondriaan und anderen. Gerade neben Leos Zimmer fand sich lange ein Bild von Chagall, das ihn als Erinnerung das ganze Leben hindurch begleiten sollte. Im Alter von 10 Jahren erhielt er eine Sondergenehmigung, im Rijksmuseum von Amsterdam zu zeichnen, wo er sich vor allem den alten holländischen Meistern widmete.

 

1922 gewann Lionnis Vater die Erkenntnis, dass seine Illusion einer lukrativen Karriere als Wirtschaftsprüfer  „in einem Meer von Missgeschicken Schiffbruch erlitten hatte“. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Seine Eltern verkauften ihre ganze Habe, zogen in die USA und liessen ihren Sohn vorerst in Europa zurück. Er selber hatte allerdings nach Brüssel umzuziehen, in das herrschaftliche Stadthaus seiner Grossmutter und seines Stiefgrossvaters Elie Beffie. Waren sein bisheriges Lebenszentrum sein mit Pflanzen und Tieren gefülltes Zimmer und das Haus der Grossouws gewesen, mit seiner überfüllten Küche, die immer nach Kohl und dem Schlafzimmer der Grosseltern, das nach 4711 roch,  so war sein „neuer jüdischer Lebensraum“  von „hollywoodartigen Proportionen“. Das Verhältnis zu seinen Grosseltern besteht in „distanzierter Zuneigung“.

 

Tante Mies hatte sich unterdessen in einer Art Dr.Higgins/Elisa Dolittle-Verhältnis mit einem fanatischen Sammler moderner Kunst verheiratet und lebte in Brüssel. Nebst dem emotionalen Halt bei seiner Tante verschafften ihm die Unterhaltungen mit „Ohm René“ und die vielen Stunden, die er allein mit dessen Meisterwerken  von Picasso, de Chirico, Mirò, Delvaux, Modigliani, Max Ernst und anderen verbrachte, „Gelegenheit, gründlich und direkt mit dieser geheimnisvollen Welt Bekanntschaft zu schliessen...“ und zu entdecken, „ dass die einzig mögliche Erklärung für so vieles einfach die ist, dass es existiert“.

 

Und da war noch besagter (Gross-)Onkel Willem Beffie, Bruder seines Stiefgrossvaters, erfolgreicher Diamantenhändler, Junggeselle, Kunstliebhaber und Sammler moderner Kunst auch er. In einer Zeit des radikalen Umbruchs - die  Kubisten „hatten den virtuellen Raum aus der Malerei herausgenommen und dafür die Metaphorik an die Oberfläche der Leinwand geholt“ -  sammelte „Onkel Willem“ Picasso, Kandinsky, Mondriaan, Klee aber auch Chagall, hatte bald nicht mehr genug Platz, seine Bilder zu hängen und begann, die Häuser von Verwandten und Bekannten damit zu füllen. Viele reagierten darauf mit Angst und Schrecken. Nicht so Lionnis Vater, den alles faszinierte, was neu und provokativ war. „Der Chagall“ neben Leos Zimmer in Amsterdam gehörte auch zu Onkel Willems Sammlung. In seinem Testament legte dieser fest, dass seine Bilder, ungeachtet ihres Wertes, den Personen gehören sollten, in deren Haus sie sich zur Zeit seines Todes befinden würden.

 

1924, unterdessen 14-jährig und bereits mit 4 Sprachen vertraut, wurde Leo von seiner Mutter „abgeholt“ und per Schiff nach New York gebracht, in eine enge Mietwohnung „in einem Industriegebiet, das sich eilig in ein Wohngebiet verwandelt hatte“. Die Mutter war wiederum ziemlich erfolgreich als Sängerin, während es dem Vater erst etwas später gelang, eine Stelle als Wirtschaftsprüfer bei einer grossen Ölgesellschaft zu finden - um kaum ein Jahr darauf, 1925, als Geschäftsführer der Atlantic Refining Company of Italy nach Genua versetzt zu werden. Leo hatte seine unterdessen fünfte Sprache zu lernen. „Endlich nicht mehr Durchreisender“ in einer grosszügigen Wohnung in Genua. Lionni schloss enge Freundschaft mit  den Töchtern und Söhnen der Familie Baffi , alle Aussenseiter, er als Ausländer, sie als Nachkommen von Papà Baffi, eines bekannten kommunistischen Arztes. Sie lasen Tolstoi, Puschkin, Gogol und wurden Zeugen erster faschistischer Bücherverbrennungen. Nora, eine der Baffi-Töchter, wurde später Lionnis Frau und lebenslange Gefährtin. Papà Baffi, von einfacher Herkunft, war und blieb überzeugter Kommunist, der seinen durch Heirat ererbten Wohlstand durchaus zu schätzen wusste, gleichzeitig aber ein unermüdlicher Kämpfer für die Sache der „mondine“ gewesen war, der ausgebeuteten Arbeiterinnen auf den Reisfeldern der Po-Ebene, geplagt von Malaria, Tuberkulose und anderen Krankheiten. Die junge Generation genoss die Freiheiten finanzieller Unabhängigkeit beim Baden, Diskutieren und Philosophieren.

 

1929 zog Lionni für ein Jahr nach Zürich, um Wirtschaft und Recht zu studieren und sich gleichzeitig auf das Liceo Classico vorzubereiten, das ihm Zugang zu den höheren Witschaftsstudien in Genua verschafft hätte. Dies misslang. Er kehrte nach Italien zurück, unschlüssig über seine weitere Zukunft, und heiratete 1931 Nora Baffi.

 

Um die junge Familie , 1932 wurde ihr Sohn Louis (Mannie) geboren, zu ernähren, nahm Lionni eine Stelle als Buchhalter bei einer italienischen Ölfirma an. Gleichzeitig fing er wieder an zu malen, trat als aktives Mitglied der Bewegung der Futuristen bei, deren hauptsächliche Gemeinsamkeit die Verachtung bürgerlicher Mentalität schien, und er brachte es als futuristischer Maler sogar zu gewissem Ruhm. Die finanziell „prekäre Lage ohne substantielle Zukunft“ wurde noch schlechter, als kurz darauf die Atlantic Refining Company verkauft wurde, Lionnis Vater, der bisher immer wieder zu Hilfe gekommen war, seine Stelle in Genua verlor und die Eltern nach Amsterdam zogen. Dies brachte den festen Entschluss, jetzt doch endlich das Oekonomiestudium abzuschliessen, abermals ins Wanken. 1933 zogen auch Leo, Nora und Manni nach Amsterdam, wo sich Lionni als Handelsreisender mit Schreibwaren für das Geschäft eines Cousins wiederfand.

 

Gerade rechtzeitig vor der Einziehung in die holländische Armee erfolgte seine überstürzte Rückkehr nach Mailand, seine junge Familie vorläufig in Holland zurücklassend. Die folgende Zeit erlebte er „wie ein futuristisches Gemälde“. Trotz Faschismus’ bestand hier eine sehr aktive avantgardistische Gruppe von Malern, Bildhauern Architekten, Dichtern und Schriftstellern, die sich in Kaffees zum Debattieren und Philosophieren trafen - in Deutschland war das Bauhaus längst durch die Nationalsozialisten aufgelöst worden.

 

1935 schloss Lionni doch noch sein Oekonomiestudium mit dem Doktorat zum Thema Diamantenhandel ab. Er versuchte sich als Architekturfotograf, Architekt, baute einige Ferienhäuser  auf dem Land der Baffis in Cavi, verfasste Artikel für die Architekturzeitschrift Casabella und arbeitete als Designer und Grafiker erfolgreich für den Süsswarenhersteller Motta.

 

1938, gegen Ende von Noras zweiter Schwangerschaft mit  Sohn Paolo geriet die Situation in Europa ausser Kontrolle, die Angst vor einem Krieg wuchs. Die Emigration nach den USA war schon beschlossen, als Paolo in Faido in der als sicher geltenden Schweiz auf die Welt kam.

 

Kurz darauf, 1939, schiffte sich Lionni nach New York ein, entschlossen, in den USA weiter auf grafischem Gebiet tätig zu sein.  Doch dort interessierte sich vorderhand niemand für das „europäische Zeugs“, das er in seiner Mappe mitbrachte.

 

Durch Vermittlung seines Vaters kam er in Kontakt mit Clas Coiner, dem Art-director von N.W.Ayner, einer der grössten Werbeagenturen der USA in Philadelphia, und wurde praktisch sofort engagiert. Dort lernte er Handwerk und Tricks der amerikanischen Werbegrafik und einige Künstlerfreunde fürs Leben kennen. Mit der Cartoons-Serie „Unterschätze nie die Macht einer Frau“, Lionnis einzigem Ausflug ins Cartoon, entstanden durch einen sogenannten Zufall, gelang ihm ein erster grosser Erfolg, und er konnte sich innert eines Jahres seine finanzielle Basis sichern. Mit dem allerletzten Passagierschiff, das Italien vor dessen formellem Kriegseintritt verliess, kam dann auch Nora mit den zwei kleinen Kindern in New York an.

 

Es war nun Krieg, was Leo und Nora mit ihren jüdisch-holländischen bzw. antifaschistisch-italienischen Wurzeln heftig beschäftigte. Im allerletzten Moment konnten sich Lionnis Eltern vor den anrückenden Nationalsozialisten durch die Hilfe eines jüdischen Fischers von Amsterdam nach London retten und kamen später ebenfalls wieder in die USA.

 

Nach langem innerem Kampf meldete sich Lionni schliesslich als Freiwilliger für die Landung amerikanischer Truppen in Sizilien. Warum er abgelehnt wurde, erfuhr er erst nach Kriegsende. Dass der Grund seine direkten und indirekten Kontakte zu wichtigen Mitgliedern der italienischen KP waren, wird angesichts des zunehmenden Antikommunismus’ am Vorabend der McCarthy-Ära nicht erstaunen. Für Lionni war dieser Entscheid zwiespältig. Aber der Krieg in Europa blieb so „für alle Zeiten diese grässliche Abstraktion, ein unverrückbarer Alptraum, der zwischen mir und der Welt lag“. 1945 wurde er amerikanischer Staatsbürger.

 

Beruflich ging es steil aufwärts. Lionni wurde bald Art-director für grosse Werbeprojekte  bei Ayers, was ihm erlaubte, Künstler wie Man Ray, Ferdinand Léger und andere zu engagieren. Er gilt als einer derjenigen, die die Kunst in die Werbegrafik gebracht haben, kam in persönlichen Kontakt mit Andy Warhol, Piet Mondriaan sowie den Bauhaus-Meistern Walter Gropius und Josef Albers. Letzerer ermöglichte ihm eine erste  Lehr- und Forschungstätigkeit am Blackmountain College, Ziel: „Möglichkeiten erkunden, mit Fotos und Fotoausschnitten eine visuelle Grammatik und Syntax parallel zu den Wörtern aufzubauen“.  Was heute alltäglich erscheint, war damals neu. „Bauhaus“ faszinierte Lionni seit Jugend, unter anderem, weil Walter Gropius 1919 bei der Gründung des Bauhauses die Absicht erklärt hatte, eine Handwerkerzunft zu schaffen ohne Schranken zwischen Handwerkern und Künstlern, eine Einheit von Architektur, Bildhauerei und Malerei. „Bauhaus“ hätte sich damit auf der Ebene revolutionärer Ideologie befunden, gleichrangig mit Konstruktivismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus und anderen Ismen, die alles Denk- und Formbare neu denken und formen wollten. Später verstand Lionni „Bauhaus“ als Teil seiner inneren Definition, genauso wie er Agnostiker, (amerikanischer) Liberaler und Jude war. Als Autodidakt, der er war, habe er gewusst, wie man Antworten ersinnen konnte. Die Beschäftigung mit dem Bauhaus hätte ihn Fragen stellen gelernt, wie: Was ist ein gemaltes Bild? Sind Bilder Dinge? Ist ein Bild die Summe seiner Teile? Ist ein Bild von einem Bild ein Bild? Was ist die Farbe von Farbe? Was sind Formen? Gibt es Dinge ohne Form?. Obwohl er selbst das Bauhaus nie gesehen hatte, betrachtete er sich als einer, der durch die Bauhaus-Schule gegangen sei. Von Klee, de Chirico und vor allem von Max Ernst kam der Impuls, sich in Richtung bildnerisches Erzählen zu entwickeln. Der Sohn von Max Ernst war es auch, der Lionni eine erste Einzelausstellung in New York ermöglichte. Er meint, dass „Geschichten erzählen“ das Wesentliche seines Stils geworden sei. Damit hängt eng zusammen, dass Lionni der Überzeugung war, die Verantwortung eines Designers liege ähnlich wie diejenige eines Architekten, nämich eine vernünftige und zivilisierte Welt für alle Menschen zu gestalten: „Das Gefühl der Schuld, sie [diese Prinzipien] öfter verraten oder missachtet zu haben, als ich gern eingestehen möchte, ist mir Beweis sowohl ihrer Berechtigung als auch meines Glaubens an ihre grundsätzliche Wahrheit“. Damit verbunden auch Lionnis Ansicht zur Phänomenologie des Raums: Jede Position habe ihre Bedeutung,  für jede Linie, die man ziehe, müsse man sich verantwortlich fühlen.

 

Kurz nach dem Krieg verbrachte Lionni ein Jahr in Europa, vor allem in Italien, hauptsächlich um zu malen. Dort fiel sein „amerikanischer Bauch“ auf, Europa hungerte und lag am Boden. Zurück in den USA wollte er sich als freier Grafiker selbständig machen, denn er begann sich dafür zu hassen, ein Mann der profanen Werbebranche zu sein. Entgegen des Vorsatzes, sein Studio in New York zu gründen und sich nie mehr anstellen zu lassen, war er kurz nach seiner Rückkehr Art-director bei der Zeitschrift „Fortune Magazine“. Gleichzeitig begann er, Olivetti, einen damals führenden italienischen Hersteller  von Büromaschinen, zu dem von früher her gute Kontakte bestanden, bei der Werbung in den USA zu unterstützen. Und er konnte eine Einzelausstellung mitsamt Katalog im Museum of Modern Art in New York vorbereiten, die 1954 stattfand.

 

Die grosse Wertschätzung seiner Fähigkeiten und seines Werks bis hin zum Verleger der Times Inc., zu der Fortune Magazine gehörte, bewahrte Lionni sogar vor den Anfechtungen McCarthy’s, obwohl er sich immer offen als Mann der Linken erklärte und Mc Carthy auch bei Times Inc. intervenierte, diesen „notorischen Sympathisanten“ zu entlassen. Henry Luce, der Verleger persönlich, politisch konservativ,  teilte McCarthy klar und einfach mit, Lionnis politische Einstellung sei dessen persönliche Angelegenheit.  Lionni meint, es sei wohl entscheidend gewesen „die wiederholte Entdeckung, dass ein gemeinsames Verständnis und die gemeinsame Liebe zur Kunst ein starkes und verlässliches Band bilden“.

 

1957 unternahm er eine Reise nach Indien, mit einer Nikon und einer Exakta, „um das Geheimnis der unwiderstehlichen Faszination Indiens zu lösen“. Von dieser Reise brachte er Fotografien zurück, die vom Niveau Lionnis auch auf diesem Gebiet zeugen. Die Verbindungen zu Indien beeinflussten auch die spätere Entstehung der „Parallelen Botanik.

 

Leo Lionni hatte einen Punkt erreicht, wo sein Name ganz natürlich neben denen von Design-Grössen wie Charles Eames und vielen anderen stand - manche von ihnen waren auch seine persönlichen Freunde geworden. Das Haus von Leo und Nora Lionni war Ort vieler Parties und Treffen der New Yorker und internationalen Kunst- und Kulturszene. Lionni hatte weithin beachtete Kampagnen kreiert, war immer noch Art-director von „Fortune“ und konnte dort in einer Umgebung arbeiten „wo die Ideen nur so herumschwirrten, wo man das Bedürfnis nach einem soliden Gespräch über irgend ein Thema innert Minuten befriedigen konnte“. Das Erscheinungsbild der Olivetti-Geschäfte in den USA war legendär und trug Lionnis Handschrift. Er hatte den amerikanischen Pavillon an der Weltausstellung 1958 in Brüssel gestaltet und war, ursprünglich ohne formelle Ausbildung, in den Olymp der grafischen Gestalter aufgestiegen.

 

Entsprechend einem jugendlichen Gelöbnis strebte Lionni aber danach, ein Künstler im weitesten Sinn zu bleiben und sich in dieser Richtung zu entwickeln. Darum malte er weiterhin, lernte bildhauen, den Umgang mit Keramik und die Herstellung von Mosaiken, lernte in Andalusien Flamenco-Gitarre zu spielen und in Indien Sitar. Gleichzeitig realisierte er, dass er seine europäischen Wurzeln nie abgeschnitten hatte. Als seinen einzigen echten „privaten“ Kunden betrachtete er Olivetti, zu der eine lange Geschichte persönlicher Bindungen bestand. Und 1959 beschloss er, nach Europa zurückzukehren.

 

In gerade dieser Zeit, noch in den USA, schuf Lionni sein erstes Kinderbuch, „Das kleine Blau und das kleine Gelb“. Die Idee dazu entstand spontan auf einer langen Zugsfahrt mit seinen wilden Enkelkindern Pippo und Annie, die zu beschäftigen waren, was dem jungen Grossvater mit einer Collage aus Papierschnipseln gelang. Das Grundkonzept gefiel dem Kinderbuchlektor eines jungen New Yorker Verlags derart gut, dass die Idee schon bald in Buchform herauskam.  Das Resultat ist eine gute Illustration dafür, was Lionni unter der Phänomenologie des Raumes versteht und stellt den Beginn einer neuen Karriere als Kinderbuchautor dar. Das K.B., wie er das Buch nennt, war etwas vollkommen Neues. Entsprechend schwierig war es, an diesen Erfolg anzuschliessen. Das zweite Kinderbuch (am Strand sind Steine...), erschienen nach dem Umzug nach Italien,  hatte ganz anders zu sein und wurde es auch, schwarz-weiss und sehr „plastisch“, unmodern in dem Sinn, dass die virtuelle Räumlichkeit wieder auftauchte. Dann kam „Stück für Stück“, eines der grafisch vollkommensten, mit einer verblüffenden Fabel, die autobiografische Implikationen enthalten soll und 1963 Swimmy, eines der berühmtesten, das für Lionni „alle Grundsätze enthält, die meine Gefühle, meine Hände und meinen Geist meine lange Karriere als Kinderbuchautor hindurch geleitet haben“. Zentrales Moment sei dabei nicht so sehr die Idee Swimmys, den Schwarm kleiner Fische zu einem grossen, eindrücklichen Fisch zu vereinigen, sondern sein energisch vorgebrachter Entschluss: „Ich mache das Auge!“.

 

Bemerkenswert an seiner neuen Karriere als Kinderbuchautor fand Lionni, erstmals mit einem greifbaren Publikum konfrontiert zu sein. Bald,  1967, schuf Lionni sei wohl berühmtestes Kinderbuch, die Mäusegeschichte von Frederick, entstanden in einer Phase unbändiger Schaffenskraft. Im selben Jahr malte er besessen an seinen „Profilen“, erfüllte einen Lehrauftrag in Indien und einen weiteren in den USA. Einen Rückfall in die Zeitschriftenmacherei hatte es auch noch gegeben, als Herausgeber der Monatszeitschrift „Panorama“, einem gemeinsamen Projekt von Time Life und dem italienischen Verleger Mondadori. Eigentlich zur Erleichterung  Lionnis endete diese Zusammenarbeit nach gut einem Jahr am Widerstand von Mondadori - Lionni konnte sich wieder dem „Geruch von Terpentin“ widmen, wie er dies ja ursprünglich geplant hatte. Waren in den vergangenen Jahren imaginäre Porträts und dann Profile seine Hauptinteressen gewesen, so begannen ihn nun zunehmend florale, botanische Formen zu interessieren. Aber auch hier handelte es sich um eine imaginäre Botanik, „die weder in der Wirklichkeit noch in der Fantasie, sondern in einem Niemandsland dazwischen entstanden war, wo sich die Dinge irgendwie selbst zu erfinden schienen“. Von der malerischen  kam er immer mehr auch zur plastischen Auseinandersetzung mit dem Thema und zur Endeckung der Bronze. Die Arbeit in der Giesserei faszinierte ihn sehr, und die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Giessereiarbeitern stellte für ihn so etwas wie „mein kleines marxistisches Paradies“ dar. Das Schaffen der parallelen Botanik  bedingte eine neue Sichtweise: Bisher hatten seine Bilder für etwas gestanden, waren Metaphern gewesen - die gegossenen botanischen Skulpturen „waren“. Es folgten Ausstellungen in Mailand 1972 und in der Baukunst-Galerie in Köln 1974.

 

1976 erschien zu diesem Thema dann sein Buch „Parallele Botanik“, eine ebenso eloquente wie freche, augenzwinkernde und trotzdem in ihrem Anliegen ernsthafte Auseinandersetzung mit einer fiktiven Parallelwelt, illustriert mit wissenschaftlich exakten Zeichnungen aller nichtexistenten Pflanzengattungen einschliesslich unsichtbarer Arten. Angesichts heutiger Theorien namhafter Physikerinnen und Physiker über die Existenz uns durchdringender Parallel-Universen ein geradezu revolutionäres Werk und beredtes Zeugnis der im Alter von 66 Jahren ungebrochenen Debattierlust Lionnis.

 

In der nahm liess die künstlerische Produktivität Lionnis ab. 1991 zeigte das Museo G.Morandi in Bologna eine grosse Lionni-Retrospektive. Dieser konzentrierte sich fortan auf die Kreation seiner Kinderbücher, von denen insgesamt um die 30 erschienen, Variationen des Themas „Frederick“ eingeschlossen sogar noch einige mehr. Lionni selbst spricht von 40.  Das letzte, „ein aussergewöhnliches Ei“, schuf er 1994 im Alter von 84 Jahren. Es ist nochmals ein Höhepunkt. Grafisch frisch und jung, mit Witz und ohne edukativ erhobenen Zeigefinger führt es mit einer überraschenden Fabel vor Augen, wie relativ scheinbar unumstössliche „Wahrheiten“ sein können.

 

Vermutlich gegen 10 Jahre, seine letzten, kämpfte Lionni dann noch mit einer Autobiografie, die weit mehr als eine Biografie seiner selbst in seinem engeren Umfeld, sondern eigentlich eine sehr persönliche, aber weit gefasste Auseinandersetzung mit der europäischen und amerikanischen (Kultur- und Kunst-) Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde. Das Bedürfnis, sich all den Herausforderungen und Veränderungen dieses turbulenten Jahrhunderts zu nähern, der Kampf um Wahrheit, Wahrhaftigkeit und auch Anerkennung, lässt dabei manchmal das ganz Persönliche verblassen, beispielsweise die offensichtlich sehr tragfähige und fast  70 Jahre dauernde  Beziehung zu seiner Frau Nora („der Bewahrerin, dem Anker, dem Licht meiner Welt“) oder langjähriges  Leiden, Krankheit und Tod seines Sohnes Paolo, der 1985 nur 47-jährig starb.

 

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Leo Lionni hin- und herpendelnd zwischen Porcignano in der Toscana und New York, wechselnd geplagt von den Beschwerden des Alters und eines Morbus Parkinson.  Trotzdem empfand er auch diesen Lebensabschnitt als kreativ, erregend und bisweilen hektisch. Mit seiner Autobiographie wollte er sich und wohl der Welt beweisen, dass er auch ein richtiger Autor sei, was ihm zweifellos gelang. Der letzte Satz im autobiografischen Werk „Zwischen Zeiten und Welten“, das 1998 erschien, lautet: „Das Buch ist praktisch fertig. Alles, was ich jetzt noch brauche, ist ein gutes Ende“. Er  hatte sein Lebenswerk vollbracht und starb im Oktober 1999 in Rom.