Leo Lionni
(*5.Mai 1910 in Amsterdam, +
10.10.1999 in Rom)
Eine persönliche Betrachtung der
Autobiografie des Künstlers
von Samuel
Kohler
Leo Lionni, eine der faszinierenden Figuren in der
Kunstgeschichte des 20.Jahrhunderts: Wanderer „zwischen Zeiten und Welten“, so
auch der Titel seiner Autobiografie, Grafiker, Maler, Bilderbuchautor, Lehrer,
Bildhauer, Autor, Fotograf, Berufsintellektueller pendelnd zwischen Europa und
Amerika, zwischen der Realität kommerzieller Grafik und künstlerischer Fiktion,
den Genüssen des Lebens zugewandter Sozialist italienischen Musters, Humanist, Sucher
und Forscher, „mystischer Agnostiker“ mit jüdischem Hintergrund, aufmerksamer
Beobachter und aktiver Teilnehmer an den wichtigsten Kunstströmungen des
20.Jahrhunderts.
Amsterdam war zur Zeit von Lionnis Geburt Hauptstadt
der weltweiten Diamantenindustrie. Die Vorfahren seines Vaters waren
wohlhabende Diamantenschleifer und -händler, ihrer Herkunft nach sephardische
Juden, die während der Inquisition aus der iberischen Halbinsel vertrieben
wurden. Seine Mutter entstammte einer holländischen, protestantischen
Arbeiterfamilie. Ihr Vater war ein schwieriger, zu Alkoholexzessen neigender
Choleriker, sie selber Opernsängerin, deren Musikstudium von einem wohlhabenden
Mäzen finanziert worden war. Die Hochzeitspläne von Louis Lionni und Betty
Grossouw 1909 wurden von beiden Familien vorerst mit wenig Begeisterung
aufgenommen .
Die ersten 10 Lebensjahre spielten sich geografisch
näher der Grossouw-Familie, in einem Mietshaus in Amsterdam ab. Leo war
fasziniert von seinem Onkel Piet, einem fantasievollen jungen Architekten, der
ihm einen schwarzen Tisch schenkte, weil auf Schwarz alle Farben so schön
aussehen und der ihn zeichnen lernte. Grossvater Grossouw glänzte vor allem
durch alkoholische Exzesse, Onkel Jan heiratete eine Prostituierte, was nicht
nur Leo verwirrte, und Tante Mies war mehr Kumpel denn erwachsene Verwandte.
Mutter machte als Solosopran lokale Karriere, Vater wandte sich von der einträglichen
Diamantenschleiferei ab und gedachte, Wirtschaftsprüfer zu werden.
Zuhause hatte er ein eigenes Zimmer, wo er sich in
Aquarien, Terrarien und Käfigen allerlei Kleintiere und Pflanzen hielt und
bereits als kleiner Junge Naturbeobachtungen anstellte. Lionni wird im Alter
sagen: „Ich male Formen, Farben, Texturen von Steinen, Pflanzen den Bildern
nach, die vor mehr als 70 Jahren in meinem Gedächtnis gespeichert wurden“.
Das pädagogische Milieu war geprägt von Fröbel- und
Montessori-Bewegung. In Leos Elternhaus hingen dank eines Grossonkels
väterlicherseits, von dem später die Rede ist, Bilder von Künstlern der
beginnenden Moderne wie Henri de Fauconnier, einem frühen Kubisten, Piet
Mondriaan und anderen. Gerade neben Leos Zimmer fand sich lange ein Bild von
Chagall, das ihn als Erinnerung das ganze Leben hindurch begleiten sollte. Im
Alter von 10 Jahren erhielt er eine Sondergenehmigung, im Rijksmuseum von
Amsterdam zu zeichnen, wo er sich vor allem den alten holländischen Meistern
widmete.
1922 gewann Lionnis Vater die Erkenntnis, dass seine
Illusion einer lukrativen Karriere als Wirtschaftsprüfer „in einem Meer von Missgeschicken Schiffbruch
erlitten hatte“. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Seine Eltern verkauften
ihre ganze Habe, zogen in die USA und liessen ihren Sohn vorerst in Europa
zurück. Er selber hatte allerdings nach Brüssel umzuziehen, in das
herrschaftliche Stadthaus seiner Grossmutter und seines Stiefgrossvaters Elie
Beffie. Waren sein bisheriges Lebenszentrum sein mit Pflanzen und Tieren
gefülltes Zimmer und das Haus der Grossouws gewesen, mit seiner überfüllten
Küche, die immer nach Kohl und dem Schlafzimmer der Grosseltern, das nach 4711
roch, so war sein „neuer jüdischer
Lebensraum“ von „hollywoodartigen
Proportionen“. Das Verhältnis zu seinen Grosseltern besteht in „distanzierter
Zuneigung“.
Tante Mies hatte sich unterdessen in einer Art
Dr.Higgins/Elisa Dolittle-Verhältnis mit einem fanatischen Sammler moderner
Kunst verheiratet und lebte in Brüssel. Nebst dem emotionalen Halt bei seiner
Tante verschafften ihm die Unterhaltungen mit „Ohm René“ und die vielen
Stunden, die er allein mit dessen Meisterwerken
von Picasso, de Chirico, Mirò, Delvaux, Modigliani, Max Ernst und
anderen verbrachte, „Gelegenheit, gründlich und direkt mit dieser
geheimnisvollen Welt Bekanntschaft zu schliessen...“ und zu entdecken, „ dass
die einzig mögliche Erklärung für so vieles einfach die ist, dass es
existiert“.
Und da war noch besagter (Gross-)Onkel Willem Beffie,
Bruder seines Stiefgrossvaters, erfolgreicher Diamantenhändler, Junggeselle,
Kunstliebhaber und Sammler moderner Kunst auch er. In einer Zeit des radikalen
Umbruchs - die Kubisten „hatten den
virtuellen Raum aus der Malerei herausgenommen und dafür die Metaphorik an die
Oberfläche der Leinwand geholt“ - sammelte
„Onkel Willem“ Picasso, Kandinsky, Mondriaan, Klee aber auch Chagall, hatte
bald nicht mehr genug Platz, seine Bilder zu hängen und begann, die Häuser von
Verwandten und Bekannten damit zu füllen. Viele reagierten darauf mit Angst und
Schrecken. Nicht so Lionnis Vater, den alles faszinierte, was neu und
provokativ war. „Der Chagall“ neben Leos Zimmer in Amsterdam gehörte auch zu
Onkel Willems Sammlung. In seinem Testament legte dieser fest, dass seine
Bilder, ungeachtet ihres Wertes, den Personen gehören sollten, in deren Haus
sie sich zur Zeit seines Todes befinden würden.
1924, unterdessen 14-jährig und bereits mit 4
Sprachen vertraut, wurde Leo von seiner Mutter „abgeholt“ und per Schiff nach
New York gebracht, in eine enge Mietwohnung „in einem Industriegebiet, das sich
eilig in ein Wohngebiet verwandelt hatte“. Die Mutter war wiederum ziemlich
erfolgreich als Sängerin, während es dem Vater erst etwas später gelang, eine
Stelle als Wirtschaftsprüfer bei einer grossen Ölgesellschaft zu finden - um
kaum ein Jahr darauf, 1925, als Geschäftsführer der Atlantic Refining Company
of Italy nach Genua versetzt zu werden. Leo hatte seine unterdessen fünfte
Sprache zu lernen. „Endlich nicht mehr Durchreisender“ in einer grosszügigen
Wohnung in Genua. Lionni schloss enge Freundschaft mit den Töchtern und Söhnen der Familie Baffi ,
alle Aussenseiter, er als Ausländer, sie als Nachkommen von Papà Baffi, eines
bekannten kommunistischen Arztes. Sie lasen Tolstoi, Puschkin, Gogol und wurden
Zeugen erster faschistischer Bücherverbrennungen. Nora, eine der Baffi-Töchter,
wurde später Lionnis Frau und lebenslange Gefährtin. Papà Baffi, von einfacher
Herkunft, war und blieb überzeugter Kommunist, der seinen durch Heirat ererbten
Wohlstand durchaus zu schätzen wusste, gleichzeitig aber ein unermüdlicher
Kämpfer für die Sache der „mondine“ gewesen war, der ausgebeuteten
Arbeiterinnen auf den Reisfeldern der Po-Ebene, geplagt von Malaria,
Tuberkulose und anderen Krankheiten. Die junge Generation genoss die Freiheiten
finanzieller Unabhängigkeit beim Baden, Diskutieren und Philosophieren.
1929 zog Lionni für ein Jahr nach Zürich, um
Wirtschaft und Recht zu studieren und sich gleichzeitig auf das Liceo Classico
vorzubereiten, das ihm Zugang zu den höheren Witschaftsstudien in Genua
verschafft hätte. Dies misslang. Er kehrte nach Italien zurück, unschlüssig
über seine weitere Zukunft, und heiratete 1931 Nora Baffi.
Um die junge Familie , 1932 wurde ihr Sohn Louis
(Mannie) geboren, zu ernähren, nahm Lionni eine Stelle als Buchhalter bei einer
italienischen Ölfirma an. Gleichzeitig fing er wieder an zu malen, trat als
aktives Mitglied der Bewegung der Futuristen bei, deren hauptsächliche
Gemeinsamkeit die Verachtung bürgerlicher Mentalität schien, und er brachte es
als futuristischer Maler sogar zu gewissem Ruhm. Die finanziell „prekäre Lage
ohne substantielle Zukunft“ wurde noch schlechter, als kurz darauf die Atlantic
Refining Company verkauft wurde, Lionnis Vater, der bisher immer wieder zu
Hilfe gekommen war, seine Stelle in Genua verlor und die Eltern nach Amsterdam
zogen. Dies brachte den festen Entschluss, jetzt doch endlich das
Oekonomiestudium abzuschliessen, abermals ins Wanken. 1933 zogen auch Leo, Nora
und Manni nach Amsterdam, wo sich Lionni als Handelsreisender mit Schreibwaren
für das Geschäft eines Cousins wiederfand.
Gerade rechtzeitig vor der Einziehung in die
holländische Armee erfolgte seine überstürzte Rückkehr nach Mailand, seine
junge Familie vorläufig in Holland zurücklassend. Die folgende Zeit erlebte er
„wie ein futuristisches Gemälde“. Trotz Faschismus’ bestand hier eine sehr
aktive avantgardistische Gruppe von Malern, Bildhauern Architekten, Dichtern
und Schriftstellern, die sich in Kaffees zum Debattieren und Philosophieren
trafen - in Deutschland war das Bauhaus längst durch die Nationalsozialisten
aufgelöst worden.
1935 schloss Lionni doch noch sein Oekonomiestudium
mit dem Doktorat zum Thema Diamantenhandel ab. Er versuchte sich als
Architekturfotograf, Architekt, baute einige Ferienhäuser auf dem Land der Baffis in Cavi, verfasste
Artikel für die Architekturzeitschrift Casabella und arbeitete als Designer und
Grafiker erfolgreich für den Süsswarenhersteller Motta.
1938, gegen Ende von Noras zweiter Schwangerschaft
mit Sohn Paolo geriet die Situation in
Europa ausser Kontrolle, die Angst vor einem Krieg wuchs. Die Emigration nach
den USA war schon beschlossen, als Paolo in Faido in der als sicher geltenden
Schweiz auf die Welt kam.
Kurz darauf, 1939, schiffte sich Lionni nach New York
ein, entschlossen, in den USA weiter auf grafischem Gebiet tätig zu sein. Doch dort interessierte sich vorderhand
niemand für das „europäische Zeugs“, das er in seiner Mappe mitbrachte.
Durch Vermittlung seines Vaters kam er in Kontakt mit
Clas Coiner, dem Art-director von N.W.Ayner, einer der grössten Werbeagenturen der
USA in Philadelphia, und wurde praktisch sofort engagiert. Dort lernte er
Handwerk und Tricks der amerikanischen Werbegrafik und einige Künstlerfreunde
fürs Leben kennen. Mit der Cartoons-Serie „Unterschätze nie die Macht einer
Frau“, Lionnis einzigem Ausflug ins Cartoon, entstanden durch einen sogenannten
Zufall, gelang ihm ein erster grosser Erfolg, und er konnte sich innert eines
Jahres seine finanzielle Basis sichern. Mit dem allerletzten Passagierschiff,
das Italien vor dessen formellem Kriegseintritt verliess, kam dann auch Nora
mit den zwei kleinen Kindern in New York an.
Es war nun Krieg, was Leo und Nora mit ihren
jüdisch-holländischen bzw. antifaschistisch-italienischen Wurzeln heftig beschäftigte.
Im allerletzten Moment konnten sich Lionnis Eltern vor den anrückenden
Nationalsozialisten durch die Hilfe eines jüdischen Fischers von Amsterdam nach
London retten und kamen später ebenfalls wieder in die USA.
Nach langem innerem Kampf meldete sich Lionni
schliesslich als Freiwilliger für die Landung amerikanischer Truppen in
Sizilien. Warum er abgelehnt wurde, erfuhr er erst nach Kriegsende. Dass der
Grund seine direkten und indirekten Kontakte zu wichtigen Mitgliedern der
italienischen KP waren, wird angesichts des zunehmenden Antikommunismus’ am
Vorabend der McCarthy-Ära nicht erstaunen. Für Lionni war dieser Entscheid
zwiespältig. Aber der Krieg in Europa blieb so „für alle Zeiten diese
grässliche Abstraktion, ein unverrückbarer Alptraum, der zwischen mir und der
Welt lag“. 1945 wurde er amerikanischer Staatsbürger.
Beruflich ging es steil aufwärts. Lionni wurde bald
Art-director für grosse Werbeprojekte
bei Ayers, was ihm erlaubte, Künstler wie Man Ray, Ferdinand Léger und
andere zu engagieren. Er gilt als einer derjenigen, die die Kunst in die
Werbegrafik gebracht haben, kam in persönlichen Kontakt mit Andy Warhol, Piet
Mondriaan sowie den Bauhaus-Meistern Walter Gropius und Josef Albers. Letzerer
ermöglichte ihm eine erste Lehr- und
Forschungstätigkeit am Blackmountain College, Ziel: „Möglichkeiten erkunden,
mit Fotos und Fotoausschnitten eine visuelle Grammatik und Syntax parallel zu
den Wörtern aufzubauen“. Was heute
alltäglich erscheint, war damals neu. „Bauhaus“ faszinierte Lionni seit Jugend,
unter anderem, weil Walter Gropius 1919 bei der Gründung des Bauhauses die
Absicht erklärt hatte, eine Handwerkerzunft zu schaffen ohne Schranken zwischen
Handwerkern und Künstlern, eine Einheit von Architektur, Bildhauerei und
Malerei. „Bauhaus“ hätte sich damit auf der Ebene revolutionärer Ideologie
befunden, gleichrangig mit Konstruktivismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus
und anderen Ismen, die alles Denk- und Formbare neu denken und formen wollten.
Später verstand Lionni „Bauhaus“ als Teil seiner inneren Definition, genauso
wie er Agnostiker, (amerikanischer) Liberaler und Jude war. Als Autodidakt, der
er war, habe er gewusst, wie man Antworten ersinnen konnte. Die Beschäftigung
mit dem Bauhaus hätte ihn Fragen stellen gelernt, wie: Was ist ein gemaltes
Bild? Sind Bilder Dinge? Ist ein Bild die Summe seiner Teile? Ist ein Bild von
einem Bild ein Bild? Was ist die Farbe von Farbe? Was sind Formen? Gibt es
Dinge ohne Form?. Obwohl er selbst das Bauhaus nie gesehen hatte, betrachtete
er sich als einer, der durch die Bauhaus-Schule gegangen sei. Von Klee, de
Chirico und vor allem von Max Ernst kam der Impuls, sich in Richtung
bildnerisches Erzählen zu entwickeln. Der Sohn von Max Ernst war es auch, der Lionni
eine erste Einzelausstellung in New York ermöglichte. Er meint, dass
„Geschichten erzählen“ das Wesentliche seines Stils geworden sei. Damit hängt
eng zusammen, dass Lionni der Überzeugung war, die Verantwortung eines
Designers liege ähnlich wie diejenige eines Architekten, nämich eine vernünftige
und zivilisierte Welt für alle Menschen zu gestalten: „Das Gefühl der Schuld,
sie [diese Prinzipien] öfter verraten oder missachtet zu haben, als ich gern
eingestehen möchte, ist mir Beweis sowohl ihrer Berechtigung als auch meines
Glaubens an ihre grundsätzliche Wahrheit“. Damit verbunden auch Lionnis Ansicht
zur Phänomenologie des Raums: Jede Position habe ihre Bedeutung, für jede Linie, die man ziehe, müsse man sich
verantwortlich fühlen.
Kurz nach dem Krieg verbrachte Lionni ein Jahr in Europa,
vor allem in Italien, hauptsächlich um zu malen. Dort fiel sein „amerikanischer
Bauch“ auf, Europa hungerte und lag am Boden. Zurück in den USA wollte er sich
als freier Grafiker selbständig machen, denn er begann sich dafür zu hassen,
ein Mann der profanen Werbebranche zu sein. Entgegen des Vorsatzes, sein Studio
in New York zu gründen und sich nie mehr anstellen zu lassen, war er kurz nach
seiner Rückkehr Art-director bei der Zeitschrift „Fortune Magazine“. Gleichzeitig
begann er, Olivetti, einen damals führenden italienischen Hersteller von Büromaschinen, zu dem von früher her gute
Kontakte bestanden, bei der Werbung in den USA zu unterstützen. Und er konnte
eine Einzelausstellung mitsamt Katalog im Museum of Modern Art in New York
vorbereiten, die 1954 stattfand.
Die grosse Wertschätzung seiner Fähigkeiten und
seines Werks bis hin zum Verleger der Times Inc., zu der Fortune Magazine
gehörte, bewahrte Lionni sogar vor den Anfechtungen McCarthy’s, obwohl er sich
immer offen als Mann der Linken erklärte und Mc Carthy auch bei Times Inc.
intervenierte, diesen „notorischen Sympathisanten“ zu entlassen. Henry Luce,
der Verleger persönlich, politisch konservativ,
teilte McCarthy klar und einfach mit, Lionnis politische Einstellung sei
dessen persönliche Angelegenheit. Lionni
meint, es sei wohl entscheidend gewesen „die wiederholte Entdeckung, dass ein
gemeinsames Verständnis und die gemeinsame Liebe zur Kunst ein starkes und
verlässliches Band bilden“.
1957 unternahm er eine Reise nach Indien, mit einer
Nikon und einer Exakta, „um das Geheimnis der unwiderstehlichen Faszination
Indiens zu lösen“. Von dieser Reise brachte er Fotografien zurück, die vom
Niveau Lionnis auch auf diesem Gebiet zeugen. Die Verbindungen zu Indien
beeinflussten auch die spätere Entstehung der „Parallelen Botanik.
Leo Lionni hatte einen Punkt erreicht, wo sein Name
ganz natürlich neben denen von Design-Grössen wie Charles Eames und vielen
anderen stand - manche von ihnen waren auch seine persönlichen Freunde
geworden. Das Haus von Leo und Nora Lionni war Ort vieler Parties und Treffen
der New Yorker und internationalen Kunst- und Kulturszene. Lionni hatte weithin
beachtete Kampagnen kreiert, war immer noch Art-director von „Fortune“ und
konnte dort in einer Umgebung arbeiten „wo die Ideen nur so herumschwirrten, wo
man das Bedürfnis nach einem soliden Gespräch über irgend ein Thema innert
Minuten befriedigen konnte“. Das Erscheinungsbild der Olivetti-Geschäfte in den
USA war legendär und trug Lionnis Handschrift. Er hatte den amerikanischen
Pavillon an der Weltausstellung 1958 in Brüssel gestaltet und war, ursprünglich
ohne formelle Ausbildung, in den Olymp der grafischen Gestalter aufgestiegen.
Entsprechend einem jugendlichen Gelöbnis strebte
Lionni aber danach, ein Künstler im weitesten Sinn zu bleiben und sich in
dieser Richtung zu entwickeln. Darum malte er weiterhin, lernte bildhauen, den
Umgang mit Keramik und die Herstellung von Mosaiken, lernte in Andalusien
Flamenco-Gitarre zu spielen und in Indien Sitar. Gleichzeitig realisierte er,
dass er seine europäischen Wurzeln nie abgeschnitten hatte. Als seinen einzigen
echten „privaten“ Kunden betrachtete er Olivetti, zu der eine lange Geschichte
persönlicher Bindungen bestand. Und 1959 beschloss er, nach Europa
zurückzukehren.
In gerade dieser Zeit, noch in den USA, schuf Lionni
sein erstes Kinderbuch, „Das kleine Blau und das kleine Gelb“. Die Idee dazu
entstand spontan auf einer langen Zugsfahrt mit seinen wilden Enkelkindern
Pippo und Annie, die zu beschäftigen waren, was dem jungen Grossvater mit einer
Collage aus Papierschnipseln gelang. Das Grundkonzept gefiel dem
Kinderbuchlektor eines jungen New Yorker Verlags derart gut, dass die Idee schon
bald in Buchform herauskam. Das Resultat
ist eine gute Illustration dafür, was Lionni unter der Phänomenologie des
Raumes versteht und stellt den Beginn einer neuen Karriere als Kinderbuchautor
dar. Das K.B., wie er das Buch nennt, war etwas vollkommen Neues. Entsprechend
schwierig war es, an diesen Erfolg anzuschliessen. Das zweite Kinderbuch (am
Strand sind Steine...), erschienen nach dem Umzug nach Italien, hatte ganz anders zu sein und wurde es auch,
schwarz-weiss und sehr „plastisch“, unmodern in dem Sinn, dass die virtuelle
Räumlichkeit wieder auftauchte. Dann kam „Stück für Stück“, eines der grafisch
vollkommensten, mit einer verblüffenden Fabel, die autobiografische
Implikationen enthalten soll und 1963 Swimmy, eines der berühmtesten, das für
Lionni „alle Grundsätze enthält, die meine Gefühle, meine Hände und meinen
Geist meine lange Karriere als Kinderbuchautor hindurch geleitet haben“.
Zentrales Moment sei dabei nicht so sehr die Idee Swimmys, den Schwarm kleiner
Fische zu einem grossen, eindrücklichen Fisch zu vereinigen, sondern sein
energisch vorgebrachter Entschluss: „Ich mache das Auge!“.
Bemerkenswert an seiner neuen Karriere als
Kinderbuchautor fand Lionni, erstmals mit einem greifbaren Publikum konfrontiert
zu sein. Bald, 1967, schuf Lionni sei
wohl berühmtestes Kinderbuch, die Mäusegeschichte von Frederick, entstanden in
einer Phase unbändiger Schaffenskraft. Im selben Jahr malte er besessen an
seinen „Profilen“, erfüllte einen Lehrauftrag in Indien und einen weiteren in
den USA. Einen Rückfall in die Zeitschriftenmacherei hatte es auch noch
gegeben, als Herausgeber der Monatszeitschrift „Panorama“, einem gemeinsamen
Projekt von Time Life und dem italienischen Verleger Mondadori. Eigentlich zur
Erleichterung Lionnis endete diese
Zusammenarbeit nach gut einem Jahr am Widerstand von Mondadori - Lionni konnte
sich wieder dem „Geruch von Terpentin“ widmen, wie er dies ja ursprünglich
geplant hatte. Waren in den vergangenen Jahren imaginäre Porträts und dann
Profile seine Hauptinteressen gewesen, so begannen ihn nun zunehmend florale,
botanische Formen zu interessieren. Aber auch hier handelte es sich um eine
imaginäre Botanik, „die weder in der Wirklichkeit noch in der Fantasie, sondern
in einem Niemandsland dazwischen entstanden war, wo sich die Dinge irgendwie
selbst zu erfinden schienen“. Von der malerischen kam er immer mehr auch zur plastischen
Auseinandersetzung mit dem Thema und zur Endeckung der Bronze. Die Arbeit in
der Giesserei faszinierte ihn sehr, und die gleichberechtigte Zusammenarbeit
mit den Giessereiarbeitern stellte für ihn so etwas wie „mein kleines
marxistisches Paradies“ dar. Das Schaffen der parallelen Botanik bedingte eine neue Sichtweise: Bisher hatten
seine Bilder für etwas gestanden, waren Metaphern gewesen - die gegossenen
botanischen Skulpturen „waren“. Es folgten Ausstellungen in Mailand 1972 und in
der Baukunst-Galerie in Köln 1974.
1976 erschien zu diesem Thema dann sein Buch
„Parallele Botanik“, eine ebenso eloquente wie freche, augenzwinkernde und
trotzdem in ihrem Anliegen ernsthafte Auseinandersetzung mit einer fiktiven
Parallelwelt, illustriert mit wissenschaftlich exakten Zeichnungen aller
nichtexistenten Pflanzengattungen einschliesslich unsichtbarer Arten.
Angesichts heutiger Theorien namhafter Physikerinnen und Physiker über die
Existenz uns durchdringender Parallel-Universen ein geradezu revolutionäres
Werk und beredtes Zeugnis der im Alter von 66 Jahren ungebrochenen
Debattierlust Lionnis.
In der nahm liess die künstlerische Produktivität
Lionnis ab. 1991 zeigte das Museo G.Morandi in Bologna eine grosse
Lionni-Retrospektive. Dieser konzentrierte sich fortan auf die Kreation seiner
Kinderbücher, von denen insgesamt um die 30 erschienen, Variationen des Themas
„Frederick“ eingeschlossen sogar noch einige mehr. Lionni selbst spricht von
40. Das letzte, „ein aussergewöhnliches
Ei“, schuf er 1994 im Alter von 84 Jahren. Es ist nochmals ein Höhepunkt. Grafisch
frisch und jung, mit Witz und ohne edukativ erhobenen Zeigefinger führt es mit
einer überraschenden Fabel vor Augen, wie relativ scheinbar unumstössliche „Wahrheiten“
sein können.
Vermutlich gegen 10 Jahre, seine letzten, kämpfte
Lionni dann noch mit einer Autobiografie, die weit mehr als eine Biografie
seiner selbst in seinem engeren Umfeld, sondern eigentlich eine sehr persönliche,
aber weit gefasste Auseinandersetzung mit der europäischen und amerikanischen (Kultur-
und Kunst-) Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde. Das Bedürfnis, sich all den
Herausforderungen und Veränderungen dieses turbulenten Jahrhunderts zu nähern, der
Kampf um Wahrheit, Wahrhaftigkeit und auch Anerkennung, lässt dabei manchmal
das ganz Persönliche verblassen, beispielsweise die offensichtlich sehr
tragfähige und fast 70 Jahre
dauernde Beziehung zu seiner Frau Nora
(„der Bewahrerin, dem Anker, dem Licht meiner Welt“) oder langjähriges Leiden, Krankheit und Tod seines Sohnes Paolo,
der 1985 nur 47-jährig starb.
Seine letzten Lebensjahre verbrachte Leo Lionni hin-
und herpendelnd zwischen Porcignano in der Toscana und New York, wechselnd
geplagt von den Beschwerden des Alters und eines Morbus Parkinson. Trotzdem empfand er auch diesen
Lebensabschnitt als kreativ, erregend und bisweilen hektisch. Mit seiner
Autobiographie wollte er sich und wohl der Welt beweisen, dass er auch ein
richtiger Autor sei, was ihm zweifellos gelang. Der letzte Satz im
autobiografischen Werk „Zwischen Zeiten und Welten“, das 1998 erschien, lautet:
„Das Buch ist praktisch fertig. Alles, was ich jetzt noch brauche, ist ein
gutes Ende“. Er hatte sein Lebenswerk
vollbracht und starb im Oktober 1999 in Rom.