Dominic Die abenteuerliche Reise zum verzauberten
Garten von William Steig
1.Kapitel Die Geschichte von Dominic, dem Hund, der
auszog, sein Glück zu suchen ISBN 3-8067-4672-9
zurück zum Geschichtenplatz
Dominic war kein Kind von Traurigkeit. Er hatte immer irgend etwas vor. Eines
Tages war er unruhiger
als sonst. Er fand, in seiner Nachbarschaft sei einfach nicht genug los, was
seine Abenteuerlust befriedigen konnte. Er musste einfach mal weg von zu Haus.
Er besass ein Sammelsurium von Hüten, die er gern trug. Nicht weil sie ihn
wärmten, ihm Schatten spendeten oder den Regen abhielten, sondern weil er mit
jedem anders aussah: sportlich, elegant, festlich oder draufgängerisch. Er
packte die Hüte, seine geliebte Piccoloflöte und ein paar andere Kleinigkeiten
in ein grosses Schnupftuch und knotete es an einen Stock. So konnte er alles
bequem über der Schulter tragen.
Er war so ungeduldig, dass er nicht herumrennen und allen Lebewohl sagen
wollte. Also nagelte er einen Zettel an seine Tür, auf dem stand: »Liebe
Freunde, ich gehe fort, weil ich mehr von der Welt sehen möchte. Ich hab‘s
ziemlich eilig und kann mich deshalb nicht von jedem einzeln verabschieden. Ich
umarme euch alle und beschnüffele euch in Liebe. Ich weiss nicht, wann ich
wieder da bin, aber ich komme bestimmt zurück. Dominic.«
Er schloss die Tür ab, vergrub den Schlüssel und ging fort, um sein Glück zu
suchen. Das heisst, er wollte herausfinden, was ihn da draussen in der
unbekannten Welt wohl erwartete, ganz gleich, was das sein mochte.
Er schlug die gepflasterte Strasse nach Osten ein. So konnte er die Sonne
begrüssen, gleich wenn sie aufging, und auch die Nacht, wenn es dunkel wurde.
Aber er ging nicht schnurstracks geradeaus. Immer wieder verliess er seitwärts
die Strasse, kam zurück und lief wieder weg; er spürte jedem Geruch und
jedem Geräusch nach und untersuchte alles, was ihm unter die Augen kam und
seine Neugier weckte. Nicht das kleinste bisschen entging seiner
Aufmerksamkeit.
Am zweiten Tag seiner Reise kam er an eine Weggabelung.
Er überlegte, ob er den Weg einschlagen sollte, der scharf nach links abknickte
oder lieber den, der in einem Bogen
nach rechts führte.
Am
liebsten hätte er auf der Stelle beide ausprobiert. Da das nicht gut möglich
war, warf er eine Münze: »Kopf« bedeutete rechts, »Zahl« links. »Kopf« lag
oben, deshalb drehte er sich dreimal blitzschnell im Kreis und versuchte, mit
dem Kopf seinen Schwanz zu schnappen. Dann schlug er den Weg nach rechts ein.
Nach und nach machte sich ein aussergewöhnlicher Geruch bemerkbar, den Dominic
noch nie in der Nase gehabt hatte. Eilig folgte er der Duftspur, wie er es
immer eilig hatte, wenn sich etwas tat. So kam er an eine zweite Weggabelung.
Dort stand eine Hexe, eine Alligatorin. Sie stützte sich auf einen Rohrstock
und sah aus, als habe sie auf ihn gewartet.
Dominic hatte noch nie eine Alligatorin gesehen, die eine Hexe war. Obwohl
Gerüche allesamt sein Interesse weckten, konnte er nicht sagen, ob er ihren
besonderen Geruch mochte. Ausserdem schien es ihm, als habe sie viel mehr
Zähne, als man normalerweise brauchte. Dennoch begrüsste er sie in seiner
gewohnt fröhlichen Art: »Guten Morgen! Einen schönen Tag uns allen!«
»Das wünsche ich dir auch«, sagte die Hexe. »Weisst du, wohin du gehst?«
»Keine Ahnung!« sagte Dominic und lachte. »Ich gehe, wohin mein Geschick mich
führt.« »Und möchtest du gern wissen, was dich erwartet?« fragte die Hexe,
während sie den Saum ihres Kopftuchs zurechtzupfte. »Ich sehe die Zukunft so
klar vor mir wie das, was gerade jetzt passiert, und klarer, als ich mir die
Vergangenheit in Erinnerung rufen kann. Für fünfundzwanzig Pfennig verrate ich
dir, was dir unmittelbar bevorsteht - was dich in den nächsten Tagen erwartet. Für
fünfzig Pfennig beschreibe ich dir dein ganzes nächstes Lebensjahr. Für eine
Mark bekommst du deine ganze Lebensgeschichte, die ungeschminkte Wahrheit, von
diesem Moment bis an dein Ende.«
Dominic dachte einen Augenblick nach. Wissbegierig war er zwar immer, vor
allem, wenn es um ihn ging, doch er wollte seine Zukunft lieber selbst
kennenlernen. »Meine Zukunft interessiert mich, das steht fest«, sagte er,
»aber ich glaube, es macht sicher viel mehr Spass, selbst herauszufinden, was
passiert, wenn es passiert. Ich lasse mich gern überraschen.«
»Also gut«, sagte die Hexe, »ich weiss
alles, was sich in deinem Leben ereignen wird.« Dann
fügte sie hinzu, Dominic sei aussergewöhnlich klug für so einen jungen Hund und
bot ihm an, ihm wenigstens ein bisschen zu verraten. Sie sagte: »Ich hoffe, es
macht dir nichts aus, wenn ich dir so viel sage: Diese Strasse rechter Hand
führt nirgendwo hin. Dort erwarten dich überhaupt nichts Geheimnisvolles, kein
Abenteuer und keine Überraschung. Es gibt nichts zu entdecken oder zu
bestaunen. Selbst die Gegend ist öde. Du würdest dir bald angewöhnen, dich viel
zu sehr mit dir selbst zu beschäftigen. Du würdest anfangen, am hellichten Tag
zu träumen und mit dem Schwanz zu wedeln, du würdest zerstreut und faul werden
und vergessen, wo du bist und was du vorhast. Du würdest mehr schlafen, als dir
gut täte, und dich erbärmlich langweilen. Außerdem würdest du nach einer Weile
an eine Sackgasse kommen und müsstest den ganzen langweiligen Weg zurücklaufen
bis haargenau an diese Stelle, wo wir jetzt stehen, nur eben nicht jetzt,
sondern später. Du hättest die Zeit jämmerlich vergeudet.
Diese Strasse zur Linken aber, fuhr die Hexe fort, und ihre schweren,
blutunterlaufenen Augen glühten, die geht immer weiter, soweit man nur gehen
mag, und wenn du sie einschlägst, glaube mir, dann machst du dir niemals
Gedanken darüber, was du wohl verpasst haben könntest, wenn du die andere
gewählt hättest. Auf diesem Weg, der am Anfang genau wie der andere aussieht,
in Wirklichkeit aber völlig anders ist, passieren Dinge, die du dir nie hättest
träumen lassen, - wunderbare,
unglaubliche Dinge. An diesem Weg wartet das Abenteuer auf dich. Ich bin
ziemlich sicher, welchen Weg du wählen wirst.“ Sie lächelte und zeigte dabei
alle ihre 80 Zähne.
Dominic dankte der Hexe für den guten Rat und machte sich rasch aus dem Staub.
Er nahm die Strasse zur Linken, die Strasse der Abenteuer.