Spiralsätze
Die Bahn, die wir durchlaufen haben, um den gleichen Punkt auf einer anderen
Windung zu erreichen.
In ihrer Vertrautheit fast schon langweilige Situationen wiederholen sich, bis
wir sie im Licht der vorherigen Zeitrunde in den Griff bekommen. Je mehr uns
dies gelingt, desto steiler die Steigung, die das Mass
unseres Wachstums ist. Anhand der Spirale, die wir auf der Lebensreise
beschreiben, können wir uns mit uns selbst vergleichen und feststellen, wie
sehr wir uns verändert haben, seit wir zuletzt in der Stadt waren, unseren
Bruder getroffen oder Weihnachten gefeiert haben.
Die Zeit selbst ist zyklisch, und anhand der Spirale ihrer Jahreszeiten prüfen
wir Fortschritt und Zunahme unseres Verständnisses.
Wir bauen uns ein Spiralhaus zum Schutz vor dem ständigen Ausströmen des
Lebens, dem ansonsten ungehinderten Fliessen ins Unbekannte. Da das uns
Unbekannte Macht über uns hat, wären wir andernfalls so verwundbar wie eine
Schnecke, deren Haus gerade und in die Länge wüchse. Die Vertrautheit der
Lebenserfahrungen umringt und schützt uns und schafft so jene geheimnisvollen
Bergszenerien mit halb verborgenen Windungen, die Vermutungen und Erwartungen
in uns wecken.
Wie alles auf der absteigenden Stufenleiter des Seienden ist die Spirale ein
Symbol. Sie bedeutet Unendlichkeit, denn sie kann immer weitergehen. Da wir uns
aber von der Unendlichkeit zwangsläufig unseren eigenen endlichen Begriff
machen, müssen wir das Grenzenlose begrenzen. Nur durch Begrenzung können wir
uns die Unendlichkeit erschliessen. In der Praxis
endet daher die Spirale; auf dem zweidimensionalen Papier müssen wir in dieser
Welt von Raum und Zeit mit ihrer Zeichnung aufhören.
Das Universum und das menschliche Bewusstsein
(Makrokosmos und Mikrokosmos) sind ein Kontinuum und ein dynamisches Ganzes.
Mit der Spirale lässt sich das so ausdrücken, dass sie nicht beendet, sondern einer Kugel oder einem Ring
eingezeichnet wird, so dass sie an sich selbst
anknüpft, indem sie sich durch ihre Mitte windet. Bei diesem Symbol, das sich
fortwährend expandierend und kontrahierend in sich eindreht, wechseln Zentrum
und Umfang ab und gibt es weder Anfang noch Ende, so dass
wir es als sphärischen Wirbel bezeichnen wollen.
Das fortwährende Eindrehen des sphärischen Wirbels ist in der Natur analog
einer durch die Luft und Wasserbewegung erzeugten stabilen Strömungsfigur.
Diese Figur, die sichtbar wird, wenn man einen Rauchring bläst oder einen
Tropfen Milch in Wasser fallen und sich absetzen lässt,
wird von den Wissenschaftlern Wirbelring genannt.
Im Grunde sind es viele Spiralen, die zusammen eine vieldimensionale
Spirale bilden, in der jede Windung gleichfalls eine vollständige Spirale und
jede Spirale nur eine Windung ist. Zudem sind wir die Spirale und alle Spiralen
in ihr. Wir müssen uns vor allem mit der Natur ihrer Bewegung vertraut und ihre
Gesetze bewusst zu den unseren machen, so wie Edgar
Allan Poes Seemann, der beim Versinken im Malstrom die Natur des Strudels durch
genaue Beobachtung begriff und von der Spirale, die ihn hinabgesogen hatte,
wieder hinaufgetragen wurde.
Die einfache zweidimensionale
Spirale hat eine Anzahl bemerkenswerter Eigenschaften. Sie kommt vom Ursprung
und kehrt zu ihm zurück; sie ist ein Kontinuum, dessen Enden entgegengesetzt
und doch eins sind; und sie veranschaulicht die Zyklen des Wandels im Kontinuum
sowie den Wechsel der Polaritäten in jedem Zyklus. Sie beinhaltet, durch
Änderung der Geschwindigkeit, die Prinzipien der Expansion und Kontraktion und
die Möglichkeit zu gleichzeitiger Bewegung in beide Richtungen gegen ihre zwei
Extrempunkte. Im sphärischen Wirbel gehen diese Extrempunkte, Zentrum und
Umfang, ineinander über; sie sind im Grunde austauschbar. In der relativen Welt
von Zeit, Raum und deren Folge, Bewegung, erscheint die Möglichkeit zur
Bewegung in eine der zwei Richtungen als Wahl. Daher ist die Spirale in drei
Dimensionen entweder als emporgerichtete
Aufwärtsspirale oder als Abwärtswirbel vorstellbar. Die Spirale ist von Natur
aus asymmetrisch, und die Wahl einer Richtung längs der Vertikalachse bestimmt
auch die Rechts- oder Linksläufigkeit der Bahn: ob man sich mit der Sonne oder
gegen sie bewegt. Dass die letztere, die gegenläufige
oder „unheilvolle“ Richtung die ihr eigenen Assoziationen hat, zeigt die enge
Beziehung des Menschen zur Bewegung der Gestirne: Sie gilt als die entropische, abspulende Bewegung von der Ordnung zum Chaos
bzw., C. G. Jung zufolge, fort vom Bewussten und hin
zum Unbewussten. Dank dieser wichtigen Asymmetrie
kann die Spirale ihrem andersläufigen Gegenstück nur überlagert werden, indem
man sie durch eine zusätzliche Raumdimension klappt: Eine flächige Spirale muss aus der Seite gehoben und durch drei Dimensionen
geführt werden, eine dreidimensionale Spirale durch vier usw. Die Richtung ist
ein Anzeichen der Dimension und im traditionellen Denken der „Welt“, durch die
sich die Spirale dreht. Da es in unserer Welt vorwiegend rechtsherum geht,
denkt man sich die Welt darüber als „linksläufig“, was den Durchgang einer
anderen Dimension impliziert.
Nach der jüdischen mystischen
Überlieferung, der Kabbala, gibt es vier Welten, die alle jenseits ihrer
Positivität negativ existieren. Erst ausserhalb der
relativen Welt von Raum und Zeit gibt es keine Möglichkeit mehr, eine
asymmetrische Figur durch die nächste Raumdimension zu drehen, um sie mit ihrem
Spiegelbild zur Deckung zu bringen.
Obwohl die einfache zweidimensionale
Spirale eines der ältesten Ewigkeitssymbole ist, scheint sie doch nie ein
Symbol für das Absolute gewesen zu sein, denn sie ist kein Ganzes. Sie
kann ihrer Natur nach niemals abgeschlossen sein.
Die ganze Erscheinungswelt geht aus vom und ist doch enthalten im Punkt, zu dem
sie auch wieder zurückkehrt.