RAINER MARIA RILKE
Aus
dem Stundenbuch
Da neigt sich die Stunde und rührt
mich an mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann — und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut, ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem und mal es auf Goldgrund und gross
und halte es hoch, und weiss nicht wem löst es die
Seele los…
Ich lebe mein Leben.in wachsenden Ringen, die sich
über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich
ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein
Sturm oder ein grosser Gesang.
Ich finde dich in allen diesen Dingen, denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen, und in den grossen gibst du gross
dich hin.
Das ist das wundersame Spiel der Kräfte, dass sie so
dienend durch die Dinge gehn:
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.