Herr von Hiergeist

Als er wieder aufblickte, sah er sich selber in ganzer Gestalt im Spiegel. »Was ist das für ein Mensch fragte es in ihm, und je mehr er dem hohen Spiegelbild ein vortreffliches Aussehen, geschmeidigen Wuchs, edle Gesichtszüge, eine klare Stirn und lichte warme Augen zusprechen mußte, desto weniger schien sein Selbst damit zu tun zu haben. »Was ist das für ein Mensch fragte es wieder in ihm. Da trat das Bild aus dem Spiegel heraus, setzte sich auf einen der dunkelgrünen Polstersessel und sagte: »Plaudern wir ein wenig

»Warum nicht antwortete Herr von Hiergeist und nahm seinem Gast gegenüber Platz.

»Sie sind nicht zufrieden begann jener. »Nein, das bin ich nicht »Was wollen Sie eigentlich ?« »Ich will gar nichts

»Das ist allerdings tragisch, wenn man alles hat und nichts will. Häufiger kommt das Gegenteil vor »Mag sein. Sagen Sie einmal, sind Sie eigentlich wirklich »Das ist eine indiskrete Frage«, erwiderte der Gast lächelnd, »besonders für einen Diplomaten

»Ich bin kein Diplomat«, erklärte Herr von Hiergeist entschieden, doch ohne Trotz.

»Auf einmal also nicht?«

»Ich war es nie. Sie sind einer und wollen mir nur einreden, ich sei einer, ich sei Sie...

»Nun, das sind Sie doch auch«, erwiderte der Andere mit herzlos spottischer Überlegenheit.

» Nicht im geringsten, mein Lieber.«

Der Andere wurde unsicher. Herr von Hiergeist schwieg und verfolgte die Verwirrung auf dem Antlitz des Gastes aufmerksam. »Merkwürdig«, dachte er, »man braucht es ihm nur einmal entschlossen ins Gesicht zu sagen, und schon wird er schwankend. Nun aber nicht mehr locker lassen! Wer weiß, wann er mir wieder einmal so fest in die Hände gerät Der schweigende Blick des Herrn von Hiergeist schien den Andern immer mehr aus der Fassung zu bringen. Er versuchte es, durch Geschmeidigkeit die Lage für sich zu retten, und schien sich vertragen zu wollen:

»Woher wissen Sie denn das auf einmal, daß ich nicht Sie bin, bisher hat es doch darüber keinen Zweifel gegeben »Zweifel hat es allerdings gegeben. Das erstemal, ehe ich auf die Hochschule zog, das zweitemal vor meiner Ehe, das drittemal seit etwa 14 Tagen; nur die Gewißheit hat mir gefehlt, daß Sie und ich nicht derselbe sind »Und jetzt fragte der Gast ängstlich. »Jetzt habe ich die Gewißheit, seitdem dieser Spiegel Sie aufgefangen hat und Sie Ihren letzten Trumpf auszuspielen gedachten, indem Sie heraustraten, um mich...«

Herrn von Hiergeist wurde plötzlich so bang, daß er kaum mehr sprechen konnte. Erst jetzt, beim Antworten, merkte er, in welcher Gefahr er geschwebt, aus der er sich mit unbewußter Instinktsicherheit gerettet hatte. Er faßte sich an die Kehle und machte eine Bewegung, die das Würgen ausdrückt. »Wie schrie der Andere auf, »Sie wollen doch nicht behaupten, daß ich Sie ermorden wollte?«

»Doch«, sagte Herr von Hiergeist mit plötzlich wieder gefundener Ruhe, »das behaupte ich

»Unerhört antwortete der Gast und beteuerte seine Unschuld, aber seine Aufregung verriet das schlechte Gewissen. »Machen wir uns nichts vor«, fuhr Herr von Hiergeist fort. »Ich behaupte nicht, daß Sie mich erwürgen wollten. Ihre Mittel zum Morden sind das Geschwätz, die Überredung, die Täuschung, die Verblendung

»Ah«, rief der Andere befreit, »darüber läßt sich reden  

 - Oscar A. H. Schmitz, Herr von Hiergeist hat einen Gast. In: Jenseits der Träume. Seltsame Geschichten vom Anfang des Jahrhunderts. Hg. Robert N. Bloch. Fankfurt am Main 1990 (st 1595, zuerst 1911)