Spiegelbild von
Susann Ulshöfer
Na-Na, Ne-nanah«. Trällernd hüpfte die Gestalt die Treppe hinauf,
immer zwei Stufen auf einmal nehmend. »Na-Na, Ne-nanah«.
Die Stimme hallte durch das dunkle Treppenhaus. Als sie ins Badezimmer eintrat,
verfiel sie in Summen. Eine schmale Frauenhand mit schlichtem Ehering griff zum
Lichtschalter über dem Waschbecken und knipste das Licht im Spiegel an. Einer
dieser Spiegel wie sie in den 80er-Jahren modern gewesen waren, mit Hunderten
von winzigen Lämpchen, die dem Betrachter den Eindruck vermittelten, als sei
das Innere des Spiegels eine eigene Welt, die ins Unendliche verlief,
beidseitig gesäumt von Milliarden kleiner Lichter.
Noch immer summte die Frau, doch als sie nun langsam den Kopf hob, wurde ihre
Stimme merklich lauter. So wie sich ein Kind die Angst vertreiben mag, wenn es
in den Keller geschickt wird, um ein Glas Eingemachtes zu holen.
Die Frau blickte sich im Spiegel an. Ihre Finger umklammerten den Rand des
Waschbeckens bis die Knöchel weiß hervor traten. Schlagartig verstummte ihr
Summen. Sie starrte in ihre eigenen Augen, bewegungslos.
Und dann passierte es wieder.
Irgendwo in den Augen im Spiegel begann es rötlich zu glimmen, kam durch
die Iris näher, breitete sich erbarmungslos aus. Gleichzeitig veränderte sich
das Gesicht. Die sanften Züge flossen auseinander, waberten, verfärbten sich
grau. Die einstmals roten Lippen krochen in sich zusammen zu schwarzen
Strichen. Die Wangenknochen traten hervor, ließen die Haut aufplatzen bis
blutleere Fetzen herunterhingen. Die Augenbrauen verformten sich zu
grauenhaften Wülsten. Der Mund öffnete sich wie zu einem lautlosen Schrei, eine
dicke gelbe Zunge strich über Zahnbrocken, Speichel tropfte. Tief gurgelnd
brach ein hämisches Lachen aus der Kehle der Kreatur, sie hob entsetzlich
entstellte Klauen vors Gesicht und glotzte sie aus blutunterlaufenen Augen an.
»NÖ-NÖ, NÖ-NA-NAH«, grölte das Ding, sprang im Kreis und klatschte sich
auf die haarigen Schenkel. Mitten in der Bewegung erstarrte es, gebannt von
einem schwarzen Fleck an der Wand. Eine fette Spinne kroch dort. Blitzartig
schnellte die gelbe Zunge aus dem Maul des Wesens, um gleich darauf das Opfer
genüsslich schmatzend zu zermalmen.
»Miau?« Auf der Suche nach menschlicher Nähe kam die
schwarzgetigerte Katze des Hauses auf samtenen weißen Pfoten leise um die Ecke
ins Bad.
Die Kreatur wandte langsam den Kopf,
blanke Gier im Blick. Ein böses Knurren stieg ihre Kehle hinauf. Die Katze
verharrte unsicher, die Haare sträubten sich ihr. Ein Ansatz zur Flucht - zu
spät. Ein gewaltiger Prankenschlag hob sie vom Boden, das Ding schickte sich
an, ihr seine Zähne in den Hals zu graben. Da hielt es inne.
Ein Schlüssel drehte im Schloss, die Haustür wurde geöffnet.
»Mami, Mami«, rief es hell, »wir sind wieder da, der Papi und ich. Wo bist du,
Mami?«
Das Wesen bleckte bedauernd die Zähne
und öffnete die Klaue. »Bss spätr!«, rasselte es heiser. Die fallengelassene Katze stob
entsetzt fauchend davon.
Eine schmale Frauenhand mit schlichtem Ehering griff nach der Bürste und kämmte
ihr goldglänzendes Haar.
»Maaa-mi?«
»Ich bin im Bad, ihr Lieben, ich komme gleich!« Mit
einem letzten koketten Blick in den Spiegel prüfte sie ihr Aussehen, fand es
äußerst zufriedenstellend für ihre 35 Jahre und löschte dann das Licht im Bad.
Als sie hinaus trat, war das Treppenhaus hell erleuchtet.
»Na-Na, Ne-nanah«, sang sie frohen Sinnes auf dem Weg
nach unten zu ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter.
Früher war das anders.
Aber neuerdings war sie nicht mehr gern allein in dem großen alten Haus.
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