Zerlumpt und verdreckt
Neulich stand ich in einem Saal, in dem ein
mildtätiger Mann der Stadt ab und zu Bedürftige versammelt, um Geld und andere
Gaben an sie zu verteilen. In diesem Saal hing ein großer Spiegel, und ich ging
auf ihn zu, um mich zu betrachten, denn ich hatte mich lange nicht mehr im
Spiegel gesehen: ich war so zerlumpt und verdreckt, daß ich lachen mußte, denn
man muß aus allem seinen Vorteil ziehen. Ich betrachtete mich, wie man ein Bild
betrachtet, und ich sah meinem Gesicht an, daß ich mein Geld hatte durchbringen
müssen, es war auch nicht die Spur von kluger Vorsicht darin zu entdecken und
kein Zug, der darauf hoffen ließ, daß es sie eines Tages geben würde; es war
das echte Porträt des sorglosen Menschen, der sich sagt: Ich habe nichts? was kümmert mich das! - Das ist also der Mensch, der mein
ganzes Vermögen durchgebracht hat, sagte ich, während ich mich meinem Gesicht
näherte, der Liederjan, dessentwegen ich jetzt Lumpen trage, und der sich
nichts daraus macht; seht ihr den Schelm? alles, was
er getan hat, würde er wieder tun.
- Aus: Pierre Carlet de Marivaux, Betrachtende
Prosa. Frankfurt am Main 1988 (it 1049, zuerst 1727)