Motumotu
Als die Motumotu
von Neu-Guinea zum erstenmal ihr Bild in einem Spiegel sahen, meinten
sie, ihre Spiegelbilder seien ihre Seelen.
In Neukaledonien sind die alten Männer der Ansicht, das Bild eines Menschen im
Wasser oder in einem Spiegel sei seine Seele. Die jüngeren Menschen aber, die
von den katholischen Priestern unterrichtet
werden, behaupten, es sei eine Widerspiegelung, nichts weiter, gerade so wie
die Spiegelung der Palmen im Wasser. Da die Spiegelseele außerhalb des Menschen
ist, wird sie ziemlich den gleichen Gefahren ausgesetzt wie die Schattenseele.
Die Zulus wollen nicht in einen dunklen Tümpel hineinsehen,
weil sie sich einbilden, dort wohne ein Tier, das ihnen ihre Spiegelbilder
wegnehmen könne, so daß sie sterben müssen. Die Basutos
sagen, Krokodile hätten die Macht, dadurch einen Menschen zu töten, daß sie
sein Spiegelbild unter das Wasser ziehen. Stirbt einer von ihnen plötzlich und
ohne sichtbare Ursache, so behaupten seine Verwandten, ein Krokodil müsse seinen Schatten genommen
haben, als er einmal über den Fluß ging. Auf der Sattelinsel, Melanesien, gibt
es einen kleinen Teich. "Wenn ein Mensch da hinein schaut, stirbt er. Der
böse Geist ergreift Besitz von seinem Leben durch sein Spiegelbild im
Wasser."
Jetzt können wir verstehen, warum es
ein Grundsatz sowohl im alten Indien
als auch im alten Griechenland war, sein Bild im Wasser nicht anzusehen,
und warum die Griechen es als einen Vorboten des Todes ansahen, wenn ein Mensch
träumte, er sähe sich so widergespiegelt. Sie fürchteten, der Wassergeist werde
das Spiegelbild des Menschen oder seine Seele unter das Wasser ziehen und ihn selbst ohne
Seele umkommen lassen.
- (
fraz
)
James George Frazer: Der goldene Zweig. Das
Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker.