Minotaurus
Das Wesen,
das die Tochter des Sonnengottes, Pasiphae, geboren hatte, nachdem sie auf
ihren Wunsch hin eingeschlossen in eine künstliche Kuh von einem dem Poseidon
geweihten weißen Stier bestiegen
worden war, fand sich, von den Knechten des Minos hineingeschleppt, die lange
Ketten bildeten, um sich nicht zu verlieren, nach langen Jahren eines wirren
Schlafs, währenddessen es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs, auf dem
Boden des Labyrinths vor, das
von Daidalos erbaut worden war, um die Menschen
vor dem Wesen und das Wesen vor den Menschen zu schützen, einer Anlage, aus der
keiner, der sie betreten hatte, wieder herausfand und deren unzählige in sich
verschachtelte Wände aus Glas waren, so daß das Wesen nicht nur seinem
Spiegelbild gegenüberkauerte, sondern auch den Spiegelbildern seiner
Spiegelbilder: Es sah unermeßlich viele Wesen, wie es eines war, vor sich, und
wie es sich herumdrehte, um sie nicht mehr zu sehen, unermeßlich viele ihm
gleiche Wesen wiederum vor sich. Es befand sich in einer Welt voll kauernder
Wesen, ohne zu wissen, daß es selber das Wesen war. Es war wie gelähmt. Es
wußte nicht, wo es war, noch was die kauernden Wesen rundherum wollten,
vielleicht träumte es nur, auch wenn es nicht wußte, was Traum war und was Wirklichkeit. Es sprang auf
instinktiv, um die kauernden Wesen
zu vertreiben, gleichzeitig
sprangen seine Spiegelbilder auf. Es duckte sich, und mit ihm duckten sich
seine Spiegelbilder. Sie ließen sich nicht vertreiben.
- Friedrich Dürrenmatt,
Minotaurus. Eine Ballade. Zürich 1985