Der
Steppenwolf
Unter Lachen und kleinen drolligen Liebkosungen drehte er mich
um, daß ich dem riesengroßen Wandspiegel gegenüberstand. In dem sah ich mich.
Ich sah, einen winzigen Moment lang, den mir bekannten Harry,
nur mit einem ungewöhnlich gutgelaunten, hellen, lachenden Gesicht. Aber kaum,
daß ich ihn erkannt hatte, fiel er auseinander, löste sich eine zweite Figur
von ihm ab, eine dritte, eine zehnte, eine zwanzigste, und der ganze
Riesenspiegel war voll von lauter Harrys oder Harry-Stücken, zahllosen Harrys,
deren jeden ich nur einen blitzhaften Moment erblickte und erkannte. Einige von
diesen vielen Harrys waren so alt wie ich, einige älter, einige uralt, andere
ganz jung, Jünglinge, Knaben, Schulknaben, Lausbuben, Kinder. Fünfzigjährige
und zwanzigjährige Harrys liefen und sprangen durcheinander, dreißigjährige und
fünfjährige, ernste und lustige, würdige und komische, gutgekleidete und
zerlumpte und auch ganz nackte, haarlose und langlockige, und alle waren ich,
und jeder wurde blitzschnell von mir gesehen und erkannt und war verschwunden,
nach allen Seiten liefen sie auseinander, nach links, nach rechts, in die
Spiegeltiefe hinein, aus dem Spiegel heraus. Einer, ein junger eleganter Kerl,
sprang dem Pablo lachend an die Brust, umarmte ihn und lief mit ihm davon. Und
einer, der mir ganz besonders gefiel, ein hübscher, reizender Junge von
sechzehn oder siebzehn Jahren, lief wie der Blitz in den Korridor hinein, las
gierig die Inschriften an all den Türen, ich lief hinterher, vor einer Türe
blieb er stehen, ich las an ihr die Aufschrift:
ALLE MÄDCHEN SIND DEIN! |
Der liebe Junge schnellte sich mit einem Sprung empor, Kopf
voran, stürzte sich
selbst in den Einwurf und war hinter der Tür verschwunden.
-
Hermann Hesse, Der Steppenwolf. München
1963 (dtv 147, zuerst 1927)