Prinzessin Ateh

Als einmal Frühling war, sprach Prinzessin Ateh: »Ich habe mich an meine Gedanken gewöhnt wie an meine Kleider. Sie haben immer den gleichen Taillenumfang, und ich sehe sie überall, sogar an den Wegekreuzungen. Am schlimmsten aber ist, daß man vor ihnen nicht einmal mehr die Wegekreuzungen erkennen kann

Um sie zu zerstreuen, brachte das Gesinde der Prinzessin eines Tages zwei Spiegel. Sie unterschieden sich nicht viel von den anderen chasarischen Spiegeln. Beide waren aus geschliffenem Salz hergestellt, doch war der eine ein schneller, der andere ein langsamer Spiegel. Was immer jener schnelle vorwegnahm, indem er die Welt als Vorschuß abbildete, gab der zweite, jener langsame, zurück und beglich so die Schuld des ersteren: Im Verhältnis zur Gegenwart verspätete er sich um genau so viel, wie der erste vorauseilte. Als man Prinzessin Ateh die Spiegel brachte, hatte sie sich noch nicht vom Bett erhoben, und von ihren Augenlidern waren die Buchstaben noch nicht abgewaschen. In den Spiegeln sah sie sich mit geschlossenen Lidern und verstarb sogleich. Sie verblich zwischen zwei Augenaufschlägen, oder besser gesagt, sie las zum erstenmal auf ihren Augenlidern die Schriftzeichen, die todbringend waren, weil sie im vorausgegangenen und im nachfolgenden Augenblick zwinkerte und die Spiegel dies wiedergegeben hatten. Sie starb, gleichermaßen getötet durch die Schriftzeichen aus Vergangenheit und Zukunft.

 - (pav) Milorad Pavic, das chasarische Wörterbuch