Halbgott
Als ich in der Nacht vor meinem Spiegel saß, erblickte
ich zwei menschliche Gestalten, die hinter mir zu stehen schienen. Ich wandte
mich um, sah aber nichts. Ich schaute in den Spiegel und erblickte sie
abermals. Übrigens hatte die Erscheinung nichts Erschreckendes. Ich sah zwei
junge Männer, deren Gestalt das Menschenmaß etwas überschritt; ihre Schultern
waren auch breiter, doch ihre Rundung erinnerte an Frauenschultern. Die Brust
wölbte sich bei ihnen gleichfalls wie die der Frauen, aber der Schoß glich dem
der Männer. Ihre gerundeten, wohlgeformten Arme stützten sich auf die Hüften,
in der Haltung, die man an den ägyptischen Statuen sieht. Das sanft gewellte
Haar, von einer Farbe, die sich aus Gold und Azurblau mischte, fiel ihnen auf
die Schultern. Ich spreche nicht von ihren Gesichtszügen - Sie können sich
denken, wie schön Halbgötter sein müssen; denn es
waren freilich die himmlischen Zwillinge. Ich erkannte sie an den kleinen
Flammen, die über ihren Häuptern glommen.
Sie waren völlig unbekleidet. Jeder hatte
vier Flügel, von
denen zwei auf den Schultern lagen, während sich die beiden anderen über ihren Lenden zusammenfügten.
Die Flügel waren zwar ebenso durchsichtig wie die einer Mücke, doch Muster aus
Purpur und Gold, welche die lichten Gebilde durchwirkten, verdeckten alles, was
das Schamgefühl hätte verletzen können.
'Dies also', sagte ich im stillen, 'sind die
himmlischen Gatten, denen ich bestimmt bin.' Ich konnte mich nicht enthalten,
sie insgeheim mit dem jungen Mulatten zu vergleichen, der Sulaichâ
liebte. Der Vergleich machte mich erröten. Ich sah in den Spiegel und glaubte zu
bemerken, daß mir die Halbgötter einen zornigen Blick zuwarfen, so, als hätten
sie in meiner Seele gelesen und als fühlten sie sich durch meine unwillkürliche
Anwandlung beleidigt.
- (
sar
)
Jan Graf Potocki: Die Abenteuer in der Sierra Morena