Spiegelphysiologie                                              Tilo Kircher

Jeden Morgen sehen wir in den Spiegel und reagieren immer wieder anders auf das Gesicht, das uns da anschaut: Mal kritisch und skeptisch, mal ganz zufrieden mit unserem Gegenüber. Warum wir uns so unterschiedlich sehen, wo es doch immer dasselbe Gesicht im Spiegel ist, wissen auch Forscher bisher nicht genau. Noch ist nicht sicher, was alles unser Selbst-Bewusstsein ausmacht und wie es entsteht. Doch nun sind Tübinger Wissenschaftler einer Antwort zumindest einen kleinen Schritt nähergekommen. Sie haben herausgefunden, wo im Gehirn unsere Vorstellung vom eigenen Ich entstehen könnte.

 

 

Wissenschaftler untersuchten Probanden im Kernspintomographen. Er macht Schnittbilder durch das Gehirn, die zeigen, welche Regionen des Gehirns in einem bestimmten Moment aktiv sind. Ein aufgesetzter Spiegel erlaubte den Versuchspersonen den Blick auf eine Leinwand, die am Fußende des Gerätes aufgestellt wurde. Über diesen Versuchsaufbau führten die Tübinger Wissenschaftler den Probanden anschließend mehrere Serien unterschiedlicher Fotos vor. Die Bilder zeigten abwechselnd die Versuchsperson selbst, oder die Probanden bekamen die Gesichter anderer bekannter Personen zu sehen, etwa Fotos von Freunden und Lebensgefährten. Währenddessen zeichneten die Forscher die Messdaten zur Hirnaktivität auf.

 

 

 

Das Ergebnis zeigt, dass die Fotos in ganz unterschiedlichen Gehirnregionen verarbeitet werden. Nur wenige Stellen im Gehirn zeigen eine Aktivität beim Betrachten fremder Bilder. Die Reaktion auf die eigenen Fotos zeigte sich dagegen deutlich durch Aktivität im limbischen System, das für Gefühle zuständig ist, außerdem im linken vorderen Hirnbereich für höhere Denkleistungen. Dort lokalisieren die Forscher die Fähigkeit, sich selbst von anderen zu unterscheiden.

 

Allein Orang-Utans und andere Primatenarten erkennen ihr eigenes Spiegelbild, wie Experimente zeigen. Ich-Bewusstsein ist also eine höhere Fähigkeit, die sich in der Evolution erst spät herausgebildet hat. Kleine Kinder mit einem Farbklecks auf der Nase zeigen im Experiment, dass sich das Ich-Bewusstsein auch beim Menschen erst entwickeln muss. Bei den Jüngsten ruft der Punkt auf der Nase keine Reaktion hervor. Erst bei Kindern ab dem 18. Monat wird deutlich, dass sie sich im Spiegel erkennen. Das stützt die These eines Ich-Bewusstseins in der vorderen Hirnregion für höhere Denkvorgänge.

 

Auf diesem Weg könnten sich für die zahlreichen Patienten mit einem gestörten Bewusstsein oder einer gespaltenen Persönlichkeit auf lange Sicht neue Therapiemöglichkeiten ergeben. Zuvor braucht es jedoch noch mehr Grundlagenforschung bis wir unser Spiegelbild genau kennen und wissen, was unser Ich ausmacht.