2. Spiegel und Schatten:  Narziß               von Thomas Macho   

Narziß scheitert und stirbt, weil er sich in sein Spiegelbild - und also in sich selbst - verliebt. Andererseits will ich zeigen, daß Ovids Verse eine andere Pointe verfolgen: die unselige Verirrung des Narziß besteht demnach nicht darin, daß er sich in sich selbst verliebt, sondern daß er einem körperlosen Trugbild seine leidenschaftliche Zuneigung schenkt. So heißt es nicht umsonst: »Und während er den Durst zu stillen trachtete, wuchs in ihm ein anderer Durst. Während er trinkt, erblickt er das Spiegelbild seiner Schönheit, wird von ihr hingerissen, liebt eine körperlose Hoffnung, hält das für einen Körper, was nur Welle ist. Er bestaunt sich selbst und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild aus parischem Marmor.

Ganz offenkundig verstrickt sich Narziß in eine Liebesbeziehung zu einem Trugbild, wobei er zunächst einmal - wohl auch aufgrund mangelnder Erfahrungen mit dem eigenen Spiegelbild - gar nicht bemerkt, daß dieses Trugbild ihm ähnlich sieht. »Am Boden liegend, betrachtet er seine Augen - sie gleichen einem Sternenpaar -, das Haar, das eines Bacchus oder eines Apollo würdig wäre, die bartlosen Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, die Anmut des Gesichts, die Mischung von Schneeweiß und Rot - und alles bewundert er, was ihn selbst bewundernswert macht. Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt. Wie oft gab er dem trügerischen Quell vergebliche Küsse! Wie oft tauchte er, um den Hals, den er sah, zu erhaschen, die Arme mitten ins Wasser und konnte sich nicht darin ergreifen! Er weiß nicht, was er sieht; doch was er sieht, setzt ihn in Flammen. Und seine Augen reizt dasselbe Trugbild, das sie täuscht. Leichtgläubiger! Was greifst du vergeblich nach dem flüchtigen Bild ! Was du erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild. Es hat kein eigenes Wesen: Mit dir kam es, mit dir wird es fortgehen - wenn du nur fortgehen könntest!«

 Erst dreißig Verszeilen später erfolgt die Aufklärung des Irrtums; Narziß erkennt: »Ich bin es selbst! Ich habe es begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide. Was tun? Bitten oder mich erbitten lassen? Worum soll ich denn bitten? Was ich begehre, ist bei mir. Der Reichtum hat mich arm gemacht .«

 Das Begehren des Narziß verwandelt sich in einen Todeswunsch; darin manifestiert sich gleichsam das böse Gift des Trugbilds. »Könnte ich mich doch von meinem Körper lösen! Ein neuartiger Wunsch bei einem Liebenden: Ich wollte, der Gegenstand meiner Liebe wäre nicht bei mir!«

 Wer ein Trugbild begehrt, verliert sich an eine körper- und wesenlose Erscheinung; er kann nur noch seinen Tod - die Trennung vom eigenen Körper - wünschen. Ergriffen wird er nicht von der »Jubilatorik« irgendeines »Spiegelstadiums«, sondern lediglich von der Sehnsucht, selbst ein Trugbild zu werden. Narziß stirbt und verwandelt sich in eine Blume; doch noch in der Unterwelt kann er nicht aufhören, sich im Wasser der Styx zu betrachten.

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