Narziß scheitert und
stirbt, weil er sich in sein Spiegelbild - und also in sich selbst - verliebt. Andererseits
will ich zeigen, daß Ovids Verse eine andere Pointe verfolgen: die unselige
Verirrung des Narziß besteht demnach nicht darin, daß er sich in sich selbst
verliebt, sondern daß er einem körperlosen Trugbild seine leidenschaftliche
Zuneigung schenkt. So heißt es nicht umsonst: »Und während er den Durst zu
stillen trachtete, wuchs in ihm ein anderer Durst. Während er trinkt, erblickt
er das Spiegelbild seiner Schönheit, wird von ihr hingerissen, liebt eine
körperlose Hoffnung, hält das für einen Körper, was nur Welle ist. Er bestaunt
sich selbst und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild
aus parischem Marmor.
Ganz offenkundig verstrickt
sich Narziß in eine Liebesbeziehung zu einem Trugbild, wobei er zunächst einmal
- wohl auch aufgrund mangelnder Erfahrungen mit dem eigenen Spiegelbild - gar
nicht bemerkt, daß dieses Trugbild ihm ähnlich sieht. »Am Boden liegend,
betrachtet er seine Augen - sie gleichen einem Sternenpaar -, das Haar, das
eines Bacchus oder eines Apollo würdig wäre, die bartlosen Wangen, den Hals wie
aus Elfenbein, die Anmut des Gesichts, die Mischung von Schneeweiß und Rot -
und alles bewundert er, was ihn selbst bewundernswert macht. Nichts ahnend
begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird
umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt. Wie oft gab
er dem trügerischen Quell vergebliche Küsse! Wie oft tauchte er, um den Hals,
den er sah, zu erhaschen, die Arme mitten ins Wasser und konnte sich nicht
darin ergreifen! Er weiß nicht, was er sieht; doch was er sieht, setzt ihn in
Flammen. Und seine Augen reizt dasselbe Trugbild, das sie täuscht.
Leichtgläubiger! Was greifst du vergeblich nach dem flüchtigen Bild ! Was du
erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich
abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild. Es hat kein
eigenes Wesen: Mit dir kam es, mit dir wird es fortgehen - wenn du nur
fortgehen könntest!«
Erst dreißig Verszeilen später erfolgt die
Aufklärung des Irrtums; Narziß erkennt: »Ich bin es selbst! Ich habe es
begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt
mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide. Was tun? Bitten
oder mich erbitten lassen? Worum soll ich denn bitten? Was ich begehre, ist bei
mir. Der Reichtum hat mich arm gemacht .«
Das Begehren des Narziß verwandelt sich in
einen Todeswunsch; darin manifestiert sich gleichsam das böse Gift des
Trugbilds. »Könnte ich mich doch von meinem Körper lösen! Ein neuartiger Wunsch
bei einem Liebenden: Ich wollte, der Gegenstand meiner Liebe wäre nicht bei
mir!«
Wer ein Trugbild begehrt, verliert sich an
eine körper- und wesenlose Erscheinung; er kann nur noch seinen Tod - die
Trennung vom eigenen Körper - wünschen. Ergriffen wird er nicht von der
»Jubilatorik« irgendeines »Spiegelstadiums«, sondern lediglich von der
Sehnsucht, selbst ein Trugbild zu werden. Narziß stirbt und verwandelt sich in
eine Blume; doch noch in der Unterwelt kann er nicht aufhören, sich im Wasser
der Styx zu betrachten.
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