Solange wir in der Klasse waren, hatten wir Tänzerinnen immer den Spiegel,eine riesige Spiegelungsfläche über die gesamte Wand; nur selten entfernten sich unsere Augen davon.
Ebenso wie ich Astrids Blick im Spiegel ihrerGarderobe folgte, obwohl ich direkt neben ihr auf der Bank saß undsich unsere Schultern praktisch berührten,
betrachten sich Tänzerinnen den ganzen Tag im Spiegel. Anders als unser Lehrer — der so eigenwillig sein konnte wie F. undeinerseits jede Einzelheit bemerkte,
andererseits aber Tänzerinnen aus irgendeiner privaten, launischen Versessenheit heraus tagelangignorieren konnte — ist der Spiegel die eine ständige Präsenz im Leben einer jeden Tänzerin.
Den ganzen Tag lang in den Studiospiegel zu starren hat eine hypnotische und beruhigende Wirkung, wie die rosafarbenen Wände, die nach den neuesten Erkenntnissen im Gefängnis alsZellenfarbe empfohlen werden,
um die Gemüter der gewalttätigsten Insassen zu beruhigen. Stelle eine Ballerina vor einen Spiegel, und sie wird augenblicklich den glasigen, nach innen gerichteten Blick eines Sektenmitglieds annehmen;
ihr Körper wird sichlangsam zu drehen beginnen, von einer Seite zur anderen rotieren, als sei sie an einem Lot festgehalten, und das leichte, rituelle Scharren ihrerFüße wird automatisch einsetzen.
Aber ihre Augen werden ihren fixen Punkt im Spiegel nie verlassen. In Jerôme Robbins‘ Ballett Nachmittag eines Fauns ist das Publikum selbst die imaginäre Spiegelwand für einen jungen Tänzer und eineTänzerin,
die sich ineinander verlieben. Der Junge und das Mädchen sind von sich selbst so fasziniert, daß sie, selbst als sie einander schließlich zaghaft näherkommen, um einen Kuß auszutauschen,
niemals ihr Spiegelbild aus den Augen lassen. Wie der Junge und das Mädchen im Ballett küßten wir unser Spiegelbild jeden Tag.
Doch verführerisch wie der Spiegel war, diente er nicht dazu, uns zu belohnen. Er reflektierte vielmehr ein ständig wechselndes Bild von zu korrigierendenMängeln.
Die Checkliste war endlos. Rechte Hüfte leicht angehoben. Vierte Position zu offen. Zu geschlossen. Pirouette abgebrochen. Bein in Arabeske nicht gestreckt. Schulter.Ellbogen.Finger. Neigung des Kopfes.
Weiter. Sauberer. Schärfer. Höher. Mit einem Spiegel konnten wir jedes falsch sitzende Haar registrieren, jede Faser muskulären Irrtums,jedes Kilowatt fehlgeleiteter Energie.
Irgendwo im Spiegel verborgen war die Perfektion, die wir alle suchten, während an seiner Oberfläche — das, was wir tatsächlichzu sehen bekamen — nur Abweichungen und Fehler zu sehen waren.
Nicht, daß uns das zu schaffen gemacht hätte — schließlich waren wir ja alle zu einem bestimmten Zweck da, nicht um unserer Identität beraubt zu werden, aber um eine andere zugestalten,
eine klassisch organisierte Form, die sich den gewöhnlichen Sterblichen entzog. Die Musik strömte durch die Stange, durch unsere Körper, jemand zählteaus, die Luft war dicht und schwer von Schweiß,
und wir glitten dahin in unseren glissades und pas de bourrés, taten, was wir am meisten liebten. Wofür wir die Welt aufgegeben hatten.
Eines Tages tanzte ich gerade vor mich hin, freute mich, war von mir selbst hingerissen, von der Musik, von meinem Talent, von der kleinen Schönheit der choreografischen Spielereien,
die wir täglich in der Klasse ausführten. Malenki quelques choses, nannte F. diese Tänze auf russisch-französisch, »kleine Nichtigkeiten«, auch wenn sie teuflisch schwierig waren.
An jenem Tag herrschte bloß die donnernde, launische Stille von F. Dann ein Vorwurf: Ich schaue mir im Spiegel mein Gesicht an — ausgerechnet! —‚ erfreue mich an meinem Aussehen,
achte nicht auf meine Mängel und Fehler, sehe nur, wie hübsch ich bin. Stets auf der Hut, entschuldige ich mich.
Aber mein gemurmeltes »Tut mir leid« reichte nicht, oder vielleicht tat es mir nicht wirklich genügend leid, um F. zufriedenzustellen.
Man konnteden Spiegel nicht entfernen, also wies F. mich an, mich zur Gänze umzudrehen, den Unterricht mit dem Rücken zur Wand zu beenden.
Und was nochschlimmer war, nicht nur ich wurde um 18o Grad gedreht, sondern mit mir die gesamte Klasse, alle anderen, die vermutlich ohne Fehl waren, aber dennoch Opfer meiner Selbstverliebtheit.
Einen ganzen Monat lang wurden wir allesamt gezwungen, in dieser unbequemen Positionfortzufahren, einen Monat täglicher Orientierungslosigkeit.
Jeden Tag vergebens auf Erlösung hoffend, versanken wir allmählich in kollektive Depression; meine Mitschülerinnen sandten mir böse Blicke,
überschüttetenmich mit schweigendem Haß wegen meiner kriminellen Eitelkeit. Als F. uns endlich erlaubte, wieder in den Spiegel zu schauen, und ichzufällig einen flüchtigen,
verbotenen Blick auf mein Gesicht erhaschte, durchlief mich ein kalter Schauer von Schuld und Angst, einkleine Pavlowscher Elektroschock.
Ich erkannte sofort, daß F. vollkommen recht hatte: Ich liebte es, mich anzusehen. Ich sah mich plötzlich, wie ich wirklich war: dreizehn Jahre alt und katastrophal schön.
Danach wurde F.s Vorwurf überwältigend wahr- ich wünschte nichts sehnlicher, als mich genau im Spiegel zu betrachten, von jedem Winkel aus, mit vollkommener Hingabe.
Ich war totalbegeistert. Selbst wenn ich mich ungeschickt anstellte, wenn ich Fehler oder auch etwas vollkommen Falsches machte, selbst wenn ich so sehr außer Atemwar,
daß ich mich an der Stange festhalten mußte und keuchend nach Luft rang, selbst dann war ich immer noch unwiderstehlich schön. Ich war gebannt; ich wußte, daß ich mich den ganzen Tag bestaunen konnte.
Je mehr es mirverboten war, mich anzusehen, desto mehr wollte ich mich schauen. »Siehst du, wie schön du bist? « hatte ergefragt, und ja, ich sah, was er sah, die Schönheit meines Körpers,
der sichdurch die »kleinen Nichtigkeiten« bewegte, die F. uns aufgetragen hatte.
F.s sofortige Reaktion auf jeden meiner Blicke und meiner Gesten - von meinem verbotenen Make-up bis zu der Art, wie meine Augen sich in mein eigenes Spiegelbild versenkten —
steuerten mich immer tiefer inden für Tänzerinnen so charakteristischen Narzißmus...