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Anne-Sophie Mutter im Interview

„Karajan ist und bleibt das Nonplusultra“ 

Anne-Sophie Mutter erlangte ihren Weltruhm unter dem Dirigenten Herbert von Karajan. Dieser wäre im April hundert geworden. Im Interview spricht die Violinistin Mutter über ihren Ziehvater, Selbstzweifel, und warum sie Roger Federer verstehen kann.

Frau Mutter, im April ist es so weit: hundert Jahre Herbert von Karajan. Als sein berühmtester Zögling haben Sie schon jetzt alle Hände voll zu tun . . .

Das kann man wohl sagen. Aber es bringt mir große Freude.

Knapp zwanzig Jahre nach seinem Tod ist Herbert von Karajan noch immer allgegenwärtig. Warum eigentlich?

Karajan ist durch alle möglichen Medien am Leben geblieben. Er hat sich als erster Künstler beispielsweise mit der Bildplatte auseinandergesetzt. Und er war ja der Erste, der die CD zu einer Zeit unterstützte, als sich kein anderer Künstler da ranwagte. Karajan war überzeugt, dass dieses Medium die Musik noch populärer machen würde. Heute ist er daher mehr denn je präsent - jedenfalls in den Köpfen der Musiker.

Wie meinen Sie das?

Karajan hat einfach sehr früh verstanden, Musik um die Welt zu tragen. Und dadurch, dass er durch langjährige Zusammenarbeit mit einem Orchester dieses entscheidend prägte, ist eine singuläre musikalische Präsenz entstanden, eine Allgegenwart Karajans. Es gibt diesen wunderbaren Witz: Karajan steigt in Berlin-Tegel aus der Maschine, und der Taxifahrer fragt ihn: Wohin, Maestro? Karajan antwortet: Egal, ich werde überall gebraucht!

Welche Bedeutung hat der Dirigent Herbert von Karajan heute?

Für die Musiker, die ihn kennengelernt haben, ist und bleibt er das Nonplusultra. Sein Klang hat eine zeitlose Qualität. Er besaß die Fähigkeit, aus einem Orchester eine Einheit zu formen, ein Instrument zu schaffen, das über eine enorme Klangkultur verfügt und über eine Spielweise, die unverwechselbar ist. Diese Tradition lebt fort. Er war der perfekte Musiker und ein phantastischer Psychologe. Natürlich lieben wir alle auch die technische Perfektion, aber sein Augenmerk lag in erster Linie auf dem musikalischen Ausdruck. Er war keiner dieser Dirigenten, die böse in Richtung Horn gucken, wenn dieses mal kiekst - das ging völlig unter. Wichtig war die Inspiration des Momentes, die absolute Leidenschaft.

Man durfte sich als Musiker bei ihm auch mal ungestraft verspielen?

Na ja, also ich hab' es immer versucht zu vermeiden.

Der Dirigent Christian Thielemann sagt, dass Karajans Einzigartigkeit in der Schönheit seines Klangs lag. Diesen würde sich heute kein Dirigent mehr zutrauen. Doch für genau diesen glatten, lieblichen Klang stand Karajan auch in der Kritik.

Karajan hat etwas sehr Schönes gesagt: „Die Menschheit hungert nach Schönheit und Liebe.“ Es mag platt klingen, aber ist es nicht das, was das Leben ausmacht? Schönheit kann ich nur erkennen, wenn ich auch den Schmerz, das Drama, den Abgrund, die Zerrissenheit und die Hässlichkeit kenne. Und Karajans Klang hatte all diese Facetten. Das war natürlich auch sehr überhöht, aber dafür ist Kunst doch da. Also, für Hässlichkeiten gehe ich lieber in einen Horrorfilm.

Warum trauen sich Dirigenten diesen Klang nicht mehr zu, wie Thielemann sagt?

Das ist vor allem ein Zeitproblem. Und daraus resultierend ein finanzielles Problem. Zusätzliche Proben kosten zusätzliches Geld. Auch zeitgenössische Musik wird an den Rand gedrängt, weil uns oft die Mittel fehlen, diese Stücke in Ruhe zu erarbeiten. Das führt zu einem globalisierten, sehr professionellen, aber nicht organisch gewachsenen Ergebnis.

Karajan war auch ein Meister der perfekten Inszenierung. Hat er sich seine eigene, unverwechselbare Aura geschaffen?

Nein, das sehe ich absolut anders. Entweder ein Mensch hat Charisma, oder er hat keines. Das lässt sich nicht inszenieren.

Aber er hat sich wie kaum ein anderer Musiker seiner Generation in Pose gesetzt - sei es beim Plattencover, als schillernder Porschefahrer, Jachtbesitzer oder Jetpilot. Er soll sogar Briefe, die an ihn gerichtet waren, von einem Privatsekretär beantworten lassen haben - nur, dass dieser Privatsekretär Karajan selbst war.

Wir begeben uns hier ins Reich der Spekulationen. Sicher hatte sein Leben auch eine glamouröse Seite. Er hatte Luxus, hat auch hart dafür gearbeitet. Aber er war weder davon abhängig, noch war das sein Lebensziel. Das war: Musiker zu sein. Und als dieser war er absolut unbestechlich, er kam nicht abgehetzt von einer Überseereise, er kam nie unvorbereitet, er schien immer in sich zu ruhen und konnte alles vorwärts und rückwärts auswendig. Professioneller kann man es sich nicht vorstellen.

Er hat die Inszenierung seiner Person aber bewusst zur Vermarktung seiner Musik genutzt . . .

. . . und niemand hat so viele Platten verkauft wie er. Das ist doch großartig. Und zwar nicht nur für ihn als Musiker, sondern auch für die Verbreitung der Musik an sich. Denn diese Popularität baute ja nicht auf dem musikalischen Ausverkauf auf oder auf der trivialen Preisgabe privater Details. Es baute auf Qualität und medialer Präsenz mit der Musik auf. Er war einfach schneller in der medialen Verwertung seiner Kunst als alle anderen.

War Karajan der erste Klassik-Popstar?

Was ist ein Popstar? Muss man immer solche Vergleiche ziehen? Wir können uns darauf einigen, dass Karajan der erste Musiker des letzten Jahrhunderts war, für den sich Menschen begeistert haben, die sonst kein Interesse für klassische Musik entwickelt hätten.

Was Herbert von Karajan zu seiner Zeit fast virtuos beherzigte, ist heute business as usual. Neben der Musik muss eben auch das Image verkauft werden. Sehen Sie in der schnellen Vermarktung auch eine Gefahr für die individuelle Entwicklung eines Künstlers?

Karajan hat solche Probleme natürlich nie gehabt. Er begann ganz klein als Kapellmeister und baute sein Repertoire über die Jahre seriös auf. Gerade bei Dirigenten, die ein wesentlich größeres Repertoire aufzubauen haben als wir Instrumentalisten, ist das jahrelange Sichhocharbeiten unabdingbar. Wenn dann ein noch junger Dirigent vor den Wiener Philharmonikern steht, muss dieser sich die Frage stellen, ob die Herren überhaupt das machen, was er sich unter seiner Interpretation vorstellt, oder ob die nur verdammt gut klingen, weil sie eine fabelhafte Spieltradition haben. Dafür braucht es unendlich viele Jahre der Praxis.

Als Sie dreizehn Jahre alt waren, entdeckte Sie Karajan und brachte Sie als Solistin auf die große Bühne. Wie hat er Sie eingeführt?

Ich erinnere mich sehr gut an die erste Probe, in der er permanent das Orchester kritisierte und das Mozart-Violinkonzert bis ins Kleinste auseinandernahm. Als ich meinen Part gespielt hatte, nickte er nur und ließ das Orchester weiterproben. Er kritisierte mich nie vor dem Orchester, sondern nahm mich nach der Probe mit auf sein Zimmer, um dort die Interpretation zu diskutieren. So hat er es auch in den folgenden 13 Jahren unserer Zusammenarbeit gehalten.

Er hat Sie protegiert.

Er hat mich sehr geschützt, andererseits aber auch unter einen enormen Erwartungsdruck gesetzt. Aber der Moment auf der Bühne war einfach so magisch, dass ich begierig war, weiterzulernen. Das belohnte mich für all die Phasen der Selbstzweifel und Proben und noch mehr Selbstzweifel.

Sie plagten Selbstzweifel?

Selbstzweifel gehören zu jedem Musikerleben. Es darf nur nicht so weit kommen, dass man sich nicht auf die Bühne traut. Gerade wenn man sehr jung ist und so viele Möglichkeiten einer Interpretation eines Werkes vor sich sieht, ist das nicht immer leicht. Aber die Unbekümmertheit der Jugend hat meine Arbeit sicherlich enorm erleichtert. Zwanzig Jahre später hätte ich ein Vorspiel bei Karajan nervlich vielleicht nicht gepackt.

Wie eng war Ihr Kontakt zu Herbert von Karajan?

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mit ihm befreundet sein zu wollen. Um Gottes willen, er war für mich immer eine Respektsperson, da schloss sich das irgendwie aus. Privat kannte ich ihn kaum.

Was würden Sie heute als seine nachhaltigste Prägung auf Sie bezeichnen?

Karajan hatte während einer Konzertsaison wochenlang Pause, um zu studieren und einfach zu leben. Er war nie eindimensional. Das ist sicher einer der Punkte, warum ich mir früh vornahm, nicht nur das klassische Repertoire zu spielen, sondern die Moderne mit ebensolcher Leidenschaft aufzuführen. Ich wollte früh auch jungen Musikern zur Seite stehen. Denn nur noch schneller, noch sauberer zu spielen - wozu das alles? Nur, damit ich mein eigenes Ego befriedige? Das kann nicht Sinn und Zweck eines Lebens sein. Karajan war in seiner Vielschichtigkeit sehr bewundernswert. Ein großes Vorbild.

Sie konzertieren jetzt seit 1976. Wie schwer ist es, sich auf Ihrem Niveau noch weiterzuentwickeln?

Mit den Jahren, mit jedem Konzert steigen die eigenen Ansprüche. Das ist eine Verantwortung, mit der man erst mal umgehen muss. Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie sich Roger Federer fühlt, der sich bei jedem Spiel selbst beweisen will, dass er sich noch weiter steigern kann.

Die Herausforderungen werden immer größer, weil die Optionen immer kleiner werden?

Ja. Endlose Diskurse über einen Komponisten lassen auch nur eine begrenzte Anzahl von möglichen Interpretationen zu. Das fehlende Feedback von Komponisten empfinde ich manchmal als belastend. Bei einem lebenden Komponisten ist es einfach wunderbar. Diese Bestätigung von Angesicht zu Angesicht ist ein enormer Kick.

Karajan war in den letzten Jahren seines Lebens gesundheitlich schwer angeschlagen. Und auch die Harmonie zwischen ihm und den Berliner Philharmonikern war zerrüttet. Wie schwer fiel ihm das Loslassen?

Sicher, Karajan hat ein Lebenswerk geschaffen, das er nicht so einfach loslassen wollte. Aber warum auch? Einer, der mit achtzig die Ernte seines schöpferischen Lebens einfährt und in der Kunst wirklich angekommen ist, will das doch bis zum Ende weitergeben, bis er tot umfällt. Das erscheint mir völlig logisch und geradezu unvermeidbar.

Der perfekte Tod war für Karajan der klassische, wenn auch tragische Tod auf der Bühne.

Ja. Und er hat es auch fast geschafft. Er starb immerhin in den Armen seiner Frau.

Karajan glaubte als bekennender Buddhist an seine Wiedergeburt. Wenn er nun für 24 Stunden zurückkäme und Sie diesen Tag mit ihm verbringen müssten - wie würde der aussehen?

Ich würde mit ihm Hubschrauber fliegen gehen. Und später würden wir zusammen auf einem Berg sitzen, und dort würde sich ein tiefes Gespräch ergeben.

Sie würden mit ihm nicht musizieren?

Nein, nicht unbedingt. Wenn man das Orchester auf den Berg hochbekommt, dann vielleicht.

Das Interview führte Nahuel Lopez.