Essstörungen: ein kultur- medizinischer Uberblick       von      JOSEF AMREIN

Toilettenszene: «Sag mal, findest du mich mollig», fragt Eva ihre Freundin Sandra. «Was?» «Ob du mich mollig findest?» «Ah dick meinst du. Nein.» «Findest denn du mich mollig?» vergewissert sich nun Sandra. «Nein.» Beruhigt kehren die beiden schlanken zehnjährigen Mädchen an den gedeckten Restauranttisch zurück. Beruhigt?
Können die beiden noch ungehemmt «zuschlagen»?
Die frühe Verinnerlichung des Schlankheitskults hält an, wie die Berliner Psychelogin Eva Jaeggi unlängst in einer Studie bei 281 Studentinnen zeigen konnte:
«Obwohl fast keine übergewichtig war, hingegen 30 Prozent eindeutig starkes Untergewicht zeigten, waren 40 Prozent sehr besorgt über ihr Gewicht.» Sie alle wollten dünn(er) sein. 50 Prozent gaben an, dass sie immer wieder wegen ihres Gewichts kritisiert würden. Verständlich, angesichts der Flut an seriösen und unseriösen (auch wissenschaftlichen) Berichten, die dauernd suggerieren, die Menschen der westlichen Hemisphäre seien zu dick. Manche Berechnungen versteigen sich in Zahlen bis zu zwei Dritteln. Dies hat Auswirkungen auf die Esslust: Ober 60 Prozent der Studentinnen waren «unzufrieden» mit ihrem
Essverhalten. Knapp 55 Prozent der befragten Berliner Frauen gaben in einer anderen Studie an, häufig Diäten zu machen, zu fasten, Abführmittel zu nehmen oder gar zu erbrechen. Der Übergang zu Anorexie und Bulirnie ist nahtlos.
Schon lange bekannt, werden beide erst seit kurzem als eigenständige Krankheiten betrachtet: Die Anorexie seit 1973, die Bulimie seit 1980. Die Erstbeschreiber der Anorexie, der französische Psychiater Charles Lasgue und der englische Chirurg William Gull, brachten bloss auf den Punkt, was bereits beschrieben war. Ein Zeitgeistphänornen also? Die Wahrnehmungen Erasmus Darwins (1731—1802), dem Grossvater von Charles Darwin, besitzen heute noch Gültigkeit: «Bei manch einer jungen Dame habe ich beobachtet, wie sie dieser volltändigen Schwächung verfiel, jedoch nur gerade so weit, dass sie umhergehen konnte, was ich manchmal ihrem freiwilligen Fasten zugeschrieben habe, wenn sie sich für zu mollig hielt, und die auf diese Weise ihre Gesundheit und ihre Schönheit durch allzu starke Enthaltung eingebüsst hat, was niemals rückgängig gemacht werden konnte. » Die lateinische Bezeichnung Anorexie, wörtlich Appetitlosigkeit, ist irreführend: Es handelt sich vielmehr um eine bewusste Unterdrückung des Hungergefühls aus einem tief verwurzelten, wahnähnlichen
Wunsch heraus, mager zu sein. Treffender ist die deutsche Bezeichnung Magersucht. Die Diagnose wird heute auf Grund folgender Beschwerden gestellt: Gewichtsverlust, Angst vor dem Dickwerden, Störung der eigenen Körperwahrnehmung, Amenorrhö und hyperaktives Verhalten.

 
Fasten zur geistigen Vervollkommnung
Das Phänomen der Selbstaushungerung
ist nicht neu: in der Antike praktizierten die Kyniker, die Stoa und die Pythagoräer das Fasten als asketisches Mittel im Streben nach geistiger Vollkommenheit, was später vom Christentum übernommen wurde. Der Kirchenschriftsteiler Tertulian (gest. um 220) strich die Vorteile des Hungerns heraus: «Ein abgemagerter Körper wird das schmale Himmelstor leichter durchschreiten, ein ausgezehrter Körper bleibt im Grab am längsten erhalten.» Extremformen finden sich bei den Wüstenvätern des 4. Jahrhunderts. Asketisches Fasten wurde zum Ersatz für das Märtyrertum. Vom heiligen Antonius, der sich 20 Jahre in die Wüste zurückzog, wird berichtet: «Nahrung nahm er einmal täglich nach Sonnenuntergang zu sich; bisweilen ass er alle zwei, oft aber bloss alle vier Tage; er lebte von Brot und Salz, als Getränk diente ihm nur Wasser.» Auch der «Normalchrist» musste sich dem Fasten unterziehen: Im 3. Jahrhundert war eine zweimal wöchentliche Nahrungsenthaltung üblich, später kam eine 40-tägige Fastenzeit vor dem Qsterfest vor Weihnachten und nach Pfingsten dazu. im Mittelalter wurden die Fastentage auf nicht weniger als ein Drittel des Jahres ausgedehnt! Wer die Regeln nicht befolgte, wurde bestraft: Neben den, Ausschluss vorn Osterfest oder dem Ausschlagen der Zähne drohte sogar die Todesstrafe. Wer sich hingegen durch längeres Fasten oder andere asketische Betätigungen (Auspeitschen, Tragen von Schuhen mit Nägeln, Durchstechen der Zunge) auszeichnete, wurde zum/zur Fastenheiligen erklärt, Inder Mehrzahl waren dies Frauen: Catharina on Siena, Catharina von Genua, Margaretha von Ungarn, Jeanne DArc und andere. Berühmtes Beispiel aus der Schweiz st Nikolaus von der Flue.

 
«Heiliges» Fasten wurde von den kirchlichen Machthabern schon bald der «unangebrachten Selbstüberhebung» bezichtigt. Der Klerus hegte zudem die Vermutung, dass die Heiligen heimlich essen würden. Bestätigt wurde die Annahme durch den Arzt Johan Wier (1515— 1588), der in seiner Schrift «Über das vermeintliche Fasten» zahlreiche «heilige Mädchen» des Betruges überführte. Bis ins 18. Jahrhundert, als der Chemiker Antoine Lavoisier (1742—1786) beweisen konnte, dass der Organismus auf einem Verbrennungsprozess beruhte, hielt die Ärzteschaft allerdings an der magischen Vorstellung der «wundersamen» Nahrungsenthaltung fest. Menschen könnten von den nahrhaften Bestandteilen der Luft leben, hiess es etwa. Der Psychiater Carl Gustav Jung vermutete noch 19480) im Zusammenhang mit dem unerklärlichen Fasten des Nikolaus von der Flue, «dass lebende Eiweissmoleküle von einem Körper in den andern hinüberwanderten>. Heute kommt der belgische Psychiater Walter Vandereyken («Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht») zum einfachen Schluss: «Die Vermutung, dass Fastenheilige heimlich assen, ist gerechtfertigt.


«Hungerkünstler» nutzten im 19, Jahrhundert die Gunst der Bewunderung, welche langfristiger Nahrungsverzicht hervorrief, und machten sie zur goldenen Einnahmequelle. Der Ort des Schauspiels wechselte vom Kloster zum Jahrmarkt. Gleichzeitig wurde das Motiv der Selbstaushungerung von der Literatur entdeckt. Der schottische Schriftsteher James Matthew Barrie (1860—1936), selbst zwergwüchsig, beschrieb in «Peter Pan» einen Jungen, der nicht essen und erwachsen werden wollte und gar fliegen konnte. Welche magersüchtige Ballerina, welch magersüchtiges Model träumt nicht von einem federleichten Körper? «Peter-Pan- Syndrom» gilt heute noch als Synonym für Anorexie.
Franz Kafka (1883-1924) nimmt in seiner Erzählung «Ein Hungerkünstler» spätere psychologische Erklärungsversuche der Anorexie vorweg. Das Publikum bewundert den Helden, der mit eiserner Willenskraft das Hungergefühl bezwingt. Der vermutete Betrug, heimlich zu essen, gibt es in dieser Form nicht. Die Hintergründe sind perfiderer Natur: Wider Willen hält der Protagonist den Mythos aufrecht, den Hunger nur mit grösster Qual zügeln zu können. Zwar meint er: «Es war die leichteste Sache der Welt.» Doch keiner glaubt ihm. Kurz vor dem Sterben gibt der Unverstandene sein Geheimnis preis: «Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert», sagte der Hungerkünstler. «Wir bewundern es auch», sagte der Aufseher entgegenkommend. «Ihr solltet es aber nicht bewundern», sagte der Hungerkün5tler. «Nun, dann bewundern wir es also nicht», sagte der Aufseher, «warum sollen wir es denn nicht bewundern?» «Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders», sagte der Hungerkünstler. «Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.» Das Hungern, das Stolz und Lebensinhalt verkörperte, wird im Nachhinein bedeutungslos. Das Verhängnis mancher Magersüchtigen. Bei Kafka, der magersüchtig war, wurde die Diagnose nie gestellt. Seine Essensunlust wurde mit der Tuberkulose in Verbindung gebracht, die durch ihre «romantische Mystifizierung» (Susan Sontag) gerade bei Künstlern eine annehmbarere Erklärung war. Zudem war Kafka ein Mann. Essstörungen hingegen werden Frauen zugeschrieben.


Psychoanalytische Erklärungen


Heute werden bei Essstörungen vorab psychoanalytische und systemische Erklärungen beigezogen. Die erstere postuliert, einfach ausgedrückt, dass Magersüchtige die weibliche Form der Sexualität, einhergehend mit inkorporierenden Vorgängen (Aufnahme von Glied und Samen mit dem möglichen «Dickwerden» infolge einer Schwangerschaft), ablehnten und in den oberen (oralen) Bereich verschieben und dort bekämpfen würden. Die Systemtheorie beschreibt eine «einverleibende» magersüchtige Familienstruktur mit dominierender Mutter, die sich einem trieb- feindlichen Leistungsideal unterwirft, und einem (emotional) abwesenden Vater. Die in ihren Entwicklungsmöglichkeiten behinderte Tochter greife zu den «rettenden» Synptomen der Magersucht. Die Folge: Mütter bringen ihre magersüchtigen Töchter nach jahrelangem Kampf ums Essen in die Therapie. Die Standpunkte von Mutter und Tochter rund um den Essensk(r)ampf lassen sich bei Elias Canetti («Zur Psychologie des Essens» in «Masse und Macht») nachlesen. Die Mutter: «Ihre Leidenschaft ist, zu essen zu geben; zu sehen, dass es isst: zu sehen, dass das Essen bei ihm zu etwas wird. Sein Wachstum und die Zunahme seines Gewichts sind ihr unabänderliches Ziel.» Die Tochter: «Alles, was gegessen (oder nicht gegessen, Anm. d. Red.) wird, ist Gegenstand der Macht. »

Eigentlich banal, im Gegensatz zur ärztlichen Behandlung, die sich um einiges schwieriger gestaltet. Sind nun Fastenheilige oder die asketischen «Wüstenväter» Magersüchtige im heutigen Sinn? Sind Models moderne Nachfahrinnen der früheren Hungerkünstler? Auch sie stellen sich öffentlich zur Schau, werden bewundert, und manche Anorexiekranke stellt sich die Frage:
«Essen die überhaupt?» Eine Bulimikerin macht sich in einer Therapiesitzung Gedanken über ihr Idol: «Ist die etwa auch krank?)> Eine heilsame Feststellung auf dem Weg zur Überwindung der Krankheit. Ohne Zweifel gibt es zwischen «heiligem Fasten» und heutigem «krankhaftem Schlankheitswahn» Parallelen, wie feministische Theorien festhalten: Fastenheilige wie Models seien auf der Suche nach der eigenen Identität und strebten nach Autonomie. Mit der strengen Fastenaskese gehorchten die «heiligen Magersüchtigen» nur Gott und entzogen sich der von Männern beherrschten römischen Kirche. In den heutigen Essstörungen sehen feministische Analytikerinnen einen Ausdruck der Rebellion gegen die Machtlosigkeit der Frauen, gegen den Zwang zu einem bestimmten Aussehen und Verhalten. Paradoxerweise wird das gesellschaftliche Idealbild in übertriebener Nachahmung abgelehnt. Der Psychiater Vandereyken bringt es auf den Punkt:
«Die Fastenheilige will sich mit dem Herrn identifizieren, die Magersüchtige mit ihrem Schlankheitsideal. Bei der einen handelt es sich um Aufopferung für den leidenden Christus, die andere widmet sich dem <heiligen Abnehmen>.» Und noch eine Parallele: Beide verfügen über wenig Machtinstrumente. In der Not wird zur Krankheit gegriffen. Eine mögliche Erklärung, warum überwiegend Frauen betroffen sind.


«Man ist, was man isst»
Nun: Dem Schlankheitsdiktat beugt sich auch, wie eingangs erwähnt, die Normalbevölkerung. Ein normiertes Idealgewicht wird medizinisch mit der (nicht unumstrittenen) Krankheitsverhütung von Herz- und Rückenleiden begründet. Extrempositionen nehmen Alternativesser (Rohköst1er, Makrobiotinnen) ein, die sich übers Essen definieren: Neben praktisch allen Krankheiten werden auch die Probleme der modernen Zivilisation auf falsche Ernährung zurückgeführt. Werbung, Medien und Buchmarkt ziehen mit: Diätfibeln und ihre Gegenschriften, die sogenannten Anti-Diätbücher, werden zu Verkaufsschlagern. Eva Jaeggi ortet in Anlehnung an Foucault in der heutigen Fixiertheit auf Nahrung und Gewicht eine sinn- und identitätsstiftende Funktion:
«Die dauernde Beschäftigung mit dem Essen und die Projektion von Glück oder Unglück in diesen Teil des Alltags liegen nahe am verzweifelten Versuch der Essgestörten, sich über die <richtige> Art der Diät oder Nahrungsmenge stabil zu erhalten.»

Ludwig Feuerbach war bereits 1850 überzeugt: „Man ist, was man isst.“
Zu einem interessanten Schluss kommt Vandereyken. Er sieht in der Essstörung ein «kulturgebundenes Syndrom»: Die Medizin (Gesellschaft) wählt sich im Sinne einer «folie à deux» seine Mitspielerinnen aus. Xenical hat ihm Recht gegeben.


Literatur
Gerlinghoff M., Backmund H.: Der heimliche Heisshunger. dtv. 1997.
Gröne M.: Bulimie. Wie lasse ich mich verhungern? CarI Auer Verlag. 1995.
Jaeggi E., Klotter Chr.: Essen ist keine Sünde. Ein Anti-Diät-Buch. Quintessenz. 1995.
Selvini Palazzoli M.: Magersucht. KlettCotta. 1995.
Vandereyken W., Van Deth R., Meermann
R.: Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Magersucht. Biermann Verlag. 1992.

Interessenskonflikte: keine.

Anschrift des Autors:
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